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Traeume von Fluessen und Meeren

Traeume von Fluessen und Meeren

Titel: Traeume von Fluessen und Meeren Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tim Parks
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John, dass die Adresse nicht in der Handschrift seines Vaters geschrieben war, sondern in einer fast kindlichen Druckschrift. Vale war Veil geschrieben. Maida Veil.
    »… aufwerfen wollte, ist die, dass wir im Umgang mit der Welt und miteinander immer das ganze System bedenken müssen, alles, und dass wir dabei besonders aufpassen müssen, nicht in dem allgemeinen Generalisierungsprozess gefangen zu werden, der in der Gesellschaft am Werk ist, einem Prozess, der wiederum …«
    John versuchte noch nicht einmal, sich darauf einen Reim zu machen. Sein Blick glitt ein paar Absätze weiter nach unten.
    »In Neuguinea glaubt man, dass Charaktereigenschafteninnerhalb einer Familie eine Generation überspringen: Vater und Sohn haben gegensätzliche Merkmale, während Großvater und Enkel sich ähnlich sind. Du hast mit Sicherheit mehr mit Deinem Großvater gemeinsam als ich. Wie Du (und übrigens auch Deine Mutter) war er sehr praktisch veranlagt. Und ich und mein Bruder waren uns ähnlich darin, dass wir uns von unserem Vater unterschieden; allerdings unterschieden wir uns auf gegensätzliche Art von ihm. Der Tod meines Bruders war, wie Du weißt, die Folge einer hässlichen Dreieckskonstellation zwischen ihm selbst, dem Mädchen, das er heiraten wollte, und Deinem Großvater, einem Dreieck, in dem jeder seine eigenen Interessen bis ins Extrem verfolgte.
    Was ich zu diesen Träumen deshalb sagen möchte …«
    Das Telefon klingelte. John war zugleich erleichtert und enttäuscht. Vielleicht war Dad auf seine komische Art endlich doch kurz davor, etwas zu sagen. Eine Seite kam noch.
    »Guten Abend, Mr. Southwood, hier spricht Neville Ingrams von Open Technologies, einem Softwarehersteller, der sich auf die Datenbankverwaltung spezialisiert hat. Wie Sie vielleicht wissen –«
    »Ich fürchte, Mr. Southwood ist im Augenblick nicht zu Hause«, sagte John, »ich kann …« Dann fragte er: »Elaine?«
    »Wie bitte? Mein Name ist Neville Ingrams.« Es entstand eine kleine Pause. »Ich hatte gehofft, wir könnten Ihr Interesse an einem Programmpaket wecken, mit dem Sie …«
    Dann musste Elaine lachen. »Aber du bist drauf reingefallen! Kurz, aber immerhin!«
    »Gott, ja, im ersten Moment schon. Ich dachte wirklich, es wäre ein Mann.«
    Ihre Stimme änderte sich. »Wie auch immer, ich rufe an, um zu sagen, dass ich es heute nicht schaffe.«
    »Oh.«
    »Wir haben so eine Art Besetzungsversammlung, verstehst du, nach der Leseprobe. Ich sollte mich da nicht ausklinken.«
    »Und danach?«
    »Es wird bestimmt länger dauern. Du solltest lieber ins Bett gehen. Was stand denn in dem Brief?«
    »Mir ist egal, wie spät es wird«, sagte John. »Komm einfach her, wenn du dort fertig bist.«
    »Mal sehen.« Sie zögerte anscheinend. »Das Paket, das wir Ihnen anbieten, Mr. Southwood, erlaubt es Ihnen, Ihre vielfältigen Aktivitäten, seien sie nun geschäftlich, sozial oder familiär, in Echtzeit zu koordinieren, und zwar mithilfe eines intelligenten, autonom arbeitenden …«
    »Ich habe ein Geschenk für dich«, unterbrach er sie.
    »Mmh. In dem Fall! Was denn?«
    »Komm her, dann wirst du sehen. Oder noch besser, hol mich ab und nimm mich mit zu dir. Oder ich kann auch zu Fuß zu dir kommen.«
    Nachdem er aufgelegt hatte, wandte sich John wieder dem Brief zu und stellte fest, dass er die letzten Zeilen las:
    »… das Gleichgewicht zwischen zwei Grundelementen, Wasser und Erde, oder Schöpfung und Auflösung, während die emotionale Note durch diese schattenhafte Begleitung bestimmt wird (ist die junge Person, die im zweiten Traum auf das Meer zuläuft, die gleiche wie meine Begleitung im dritten? Und sind diese beiden Gestalten womöglich Platzhalter für Dich, John, oder für meinen Bruder, oder für irgendeine Figur, die ich dringend brauche, um mein eigenes Wesen auszugleichen, weil sie/er vielleicht …«
    Der Brief endete mitten im Satz, mitten in der Klammer.
    John starrte ihn an. Dringend brauche . Das waren überraschende Worte, die Dad überhaupt nicht ähnlich sahen. Er blätterte mehrmals die Seiten durch, um zu schauen, ob er nicht eine übersehen hatte. Nein. Sie waren in der richtigen Reihenfolge. Und der abgebrochene Satz stand ohnehin mitten auf der Seite: eine Figur, die ich dringend brauche . Dad hatte den Brief nicht beendet. Warum hatte er ihn dann abgeschickt? Oder vielleichthatte er sich entschieden, ihn nicht zu beenden, und auch nicht abzuschicken. Das Schreiben der Worte dringend brauche hatte ihn davon

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