Traeume von Fluessen und Meeren
schrieb John, Bitte gib mir ein Zeichen, ob du meine Mail erhalten hast.
»Sie will mich zwingen, bei Großmutter betteln zu gehen«, sagte er zu Elaine, »die alte Hexe um Geld zu bitten.« Das würde er nicht tun.
Einem spontanen Impuls folgend schickte John eine Kopie der Mail an die alte Adresse seines Vaters. Wie erfuhr Yahoo überhaupt, dass man gestorben war? Vielleicht schaute Mum in Dads E-Mail-Postfach, um diejenigen, die es noch nicht wussten,zu benachrichtigen. Sofort kam eine Abwesenheitsmeldung: Albert James ist leider bis auf Weiteres nicht erreichbar. Es war eine Telefonnummer angegeben. In dringenden Fällen rufen Sie bitte …
John starrte auf die Nummer. Es war nicht die Privatnummer in Delhi. Ein Handy? Der junge Mann war aufgeregt. Drei Nächte hintereinander hatte er geträumt, sein Vater befinde sich im Kellerlabor des St. Mary-Krankenhauses – tot und lebendig zugleich. Die Überzeugung, dass Träume nichts zu bedeuten hatten, half ihm hier nicht. Er war verstört. Der Sarg musste geöffnet werden, träumte er. Man musste etwas unternehmen. Einige Zellen mussten zentrifugiert werden. Aber der Sarg war zugleich der Obduktionstisch. John entnahm Bakterien aus der Lunge einer Maus. Das war immer eine schwierige Sache. In einem Traum stand das Kellerlabor knietief unter Wasser. Vielleicht war es Abwasser. Der Sarg schwamm darauf herum und stieß immer wieder gegen die Wände. Wie sollte er auf einer Oberfläche arbeiten, die sich bewegte? Eindeutig eine Folge von Träumen, hatte Dad geschrieben. Aber worin liegt der Sinn, wollte John wissen, von Überlegungen, die zu keiner nützlichen Handlung führen, die keinen Niederschlag in der Welt finden? Am besten ignoriert man sie.
Im wirklichen Labor mussten seine Kollegen und er die Eigenschaften von Hunderten von Genen analysieren: solche, die weiterhin Genexpression zeigten, nachdem das Tuberkelbakterium mit dem Immunsystem Kontakt hatte, und solche, die das nicht taten. Das war der Übergang vom aktiven in den inaktiven Zustand. Jedes Gen musste sorgfältig untersucht, jedes der komplexen Experimente mindestens drei Mal wiederholt werden. Die Leute bei Glaxo hatten recht damit, dass Forschung nur dann sinnvoll ist, wenn sie zu einem Produkt führt. Das brauchte Zeit. In der dritten Nacht fummelte John an dem Sarg herum, bekam ihn aber nicht auf. Es gab keinen Deckel, kein Scharnier, kein Schloss. Alles schien aus einem Guss zu sein.Dennoch konnte er drinnen das Gesicht seines Vaters erkennen, wie durch Milchglas. Der Mann bewegte die Lippen. Er erklärte etwas.
Als John Elaine diese Träume erzählte, stellte er fest, dass ihm das wieder Pluspunkte einbrachte. Ihr Freund war interessanter geworden; er war nicht mehr nur ein langweiliger Wissenschaftler; er machte eine schwierige Phase durch.
»Das zeigt, dass du ihn geliebt hast«, sagte sie ernst. Manchmal hielt sie seine Hand, so als könnte er krank sein; sie strich über sein blondes Stirnhaar und drückte ihm einen Kuss aufs Ohr; aber sie erinnerte ihn auch noch einmal an die 200 Pfund: »Es ist schließlich nicht mein Geld, Jo, sondern Dads.«
Tage und Wochen vergingen. John erklärte seinem Projektleiter die Situation. Er stand ohne einen Penny da. Simon, ein wohlwollender, onkelhafter Mann, war schockiert darüber, wie selbstverständlich sein junger Mitarbeiter mit einem Anstellungsvertrag rechnete, nachdem seine Doktorarbeit abgeschlossen war. »Sie haben noch gar nicht mit der Personalabteilung gesprochen?«, fragte er. »Sie haben noch nicht einmal ein Stipendium beantragt?«
John sagte, er habe gedacht, die Sache sei klar. Schließlich wurde er ständig für seine gewissenhafte Arbeit gelobt. Alle taten so, als sei er unentbehrlich für das Projekt.
»Forschen ist wesentlich einfacher, als eine Stelle dafür zu schaffen«, witzelte Simon. Er verstand nicht, wie der junge Mann, der sein bester Student war, so naiv sein konnte. Jeder andere schien die Lage zu kennen. »Ich werde mich umhören«, sagte er. »Wir können es uns nicht leisten, Sie zu verlieren.«
John fühlte sich bereits verloren. Er ließ Mahlzeiten ausfallen. Er ging die fünfeinhalb Kilometer vom Labor nach Hause zu Fuß. »Wieso beziehst du keine Sozialhilfe?«, fragten seine Freunde. MUM! Er schickte erneut eine Mail. Er wählte Schriftgrad sechsunddreißig und als Farbe Rot. Niemals würde erSozialhilfeempfänger werden. Nie. Ich leiste eine hoch komplizierte Arbeit in einem Bereich, in dem reichlich Geld
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