Traeume von Fluessen und Meeren
schlaffen dünnen Ärmchen lag die kleine Shruti auf einem Stapel Matten und schlief tief. Ihre Temperatur war leicht gesunken, aber die Haut war immer noch brennend heiß. Morgen würde sich herausstellen, ob ihre Mutter sie noch rechtzeitig hergebracht hatte.
Helen ging zurück zum Behandlungszimmer, um ihre Straßenschuhe zu holen. Dann, als sie die Tür abschloss, um nach Hause zu gehen, sah sie den Jungen. Er kam humpelnd von rechts aus dem Flur, gefolgt von der Stationsschwester.
»Ich habe diesen Bengel erwischt, wie er sich vor der Küchentür herumgetrieben hat!«, beschwerte sich die Frau. »Der kleine Dieb.« Sie versuchte, den Jungen aus dem Gebäude zu jagen. »Er spricht kein Wort Hindi, und auch kein Englisch!«
Helen erkannte die seltsam abstehenden Ohren und den erschöpften, abschätzenden Blick sofort. »Er ist schon mal hier gewesen«, sagte sie zu der Schwester.
Der Junge bekam einen Hustenanfall. Er schien sich kaum auf den Beinen halten zu können. »Hand vor den Mund!« Die Schwester schüttelte den Kopf. »Ich glaube, er spielt nur Theater, Dr. James. Er wollte Essen stehlen, und jetzt tut er so, als wäre er krank. Die Ambulanz ist geschlossen«, fauchte sie. »Du musst bis morgen warten, wenn du zur Behandlung willst.«
»Ich kümmere mich um ihn, Meena«, sagte Helen. »Er ist schon mal hier gewesen. Helen ging zu dem Jungen, legte eine Hand auf seine Schulter und führte ihn in ihr Behandlungszimmer.
Der Junge, der vermutlich ungefähr sechzehn Jahre alt war, war im vergangenen Herbst zum ersten Mal aufgetaucht. Im Oktober, oder Anfang November. Er war allein gekommen. Helen erinnerte sich an ihn, denn es war so gut wie unmöglich gewesen, mit ihm zu kommunizieren. In welcher Sprache sie es auch versuchte, er verstand kein Wort. Sie rief eine Schwester, dann den Stationsarzt. Die bekamen auch nichts aus ihm heraus. Er hustete, wischte sich mit dem Handrücken über die Stirn, legte die Finger auf seine Brust und keuchte mit aufgerissenen Augen. Aber sie hatte ohnehin schon erkannt, dass er TB hatte. Helen roch es.
Zufällig war es ein Tag, an dem Albert in der Klinik vorbeischaute. Albert interessierte sich immer für die Leute dort, und nichts interessierte ihn mehr als ein Verständigungsproblem. Er setzte sich stundenlang zu dem Jungen, während er auf die verschiedenen Untersuchungen wartete.
»Er ist Burmese«, erklärte Albert dem Stationsarzt. »Sein Name ist Than-Htay, oder Maung Than-Htay, er hat einen Vater und zwei Schwestern. Sein Vater war Lehrer in seinem Dorf. Seine Mutter wurde von Soldaten getötet, und dann sind sie als Flüchtlinge nach Delhi gekommen. Er wohnte und arbeitete in einer Seidenfabrik, aber als er anfing zu husten, haben sie ihn weggeschickt. Er konnte seinen Vater nicht finden. Jetzt ist er allein, er bettelt und isst in den Sikh-Tempeln.«
In einem solchen Fall war es üblich, eine Spezialklinik für TB anzurufen, aber nach einigem Hin und Her stellte sich heraus, dass es ein Problem gab, weil der Junge Burmese war. Staatliche Gelder für bedürftige Patienten durften nicht an Ausländer vergeben werden, selbst wenn es sich um legale Flüchtlinge handelte, was im Falle des Jungen aber auch nicht sicher war. Also behielten sie ihn in der Klinik, um mit der Behandlung zu beginnen, und entließen ihn, sobald er nicht mehr ansteckend war.
Unbeeindruckt von seiner Krankheit, war Albert fasziniert gewesen von der ungewöhnlichen Gestik und Mimik des Jungen, insbesondere von seiner Art, beim Sprechen den Kopf zu verdrehen. Es hatte zum Teil damit zu tun, dass er Burmese war, zum Teil aber auch, wie Albert glaubte, damit, dass er schwerhörig war. Jede seiner Bewegungen, jedes Lächeln, Stirnrunzeln, jede Grimasse war theatralisch überzogen. Ohne Zweifel war das der Grund, warum er kein Hindi lernte, vermutete Albert. Helen erinnerte sich, dass Albert ein Video von dem Jungen aufgenommen hatte. Nachdem er das Krankenhaus verlassen hatte, vergaß sie ihn sofort. Sie war nicht mehr für ihn verantwortlich.
Ohne ein Wort setzte sie ihn jetzt vornüber gebeugt auf einen Stuhl, zog sein schmutziges T-Shirt hoch und drückte ihr Stethoskop auf seinen Rücken. Sie hörte ein Schnaufen, das klang wie Blasen, die durch Schlamm gleiten. Wahrscheinlich hatte er aufgehört, sein Antibiotikum zu nehmen, kaum dass er entlassen worden war. Jetzt würde etwas Stärkeres nötig sein.
Sie setzte sich ihm gegenüber. Der Junge schaute zwischen seinen abstehenden Ohren
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