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Traeume von Fluessen und Meeren

Traeume von Fluessen und Meeren

Titel: Traeume von Fluessen und Meeren Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tim Parks
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wann geht das so?«, fragte Helen in einfachem Hindi.
    »Seit zwei Wochen.« Die Frau war sich nicht sicher. »Vielleicht auch drei. Ich arbeite viel, Frau Doktor.« Sie sagte, sie habe fünf Kinder. Ihr Mann war nicht da. Sie wohnte im Süden, außerhalb der Stadt.
    Das kleine Mädchen schrie, sobald man sie berührte. Ihr Name war Shruti. Ein Arzt im Ort hatte ihr Tabletten gegeben, aber die hatten nicht geholfen. Nein, die Mutter wusste nicht, was für Tabletten. Sie waren weiß, so groß, dass man sie durchschneiden musste, um sie zu schlucken. Helen ging zum Telefon und sprach mit dem Stationsarzt. »Dann müssen Sie sie eben auf eine Matte legen«, sagte sie mit fester Stimme zu dem Mann. »Ich würde sagen, drei, vier Tage, sofern es noch keine Meningitis ist.«
    Die Mutter hatte Angst, das Mädchen alleine zu lassen, und Angst, ihren Job zu verlieren, wenn sie da blieb. Helen beharrte darauf. »Die Medizin muss ständig gegeben werden, im Krankenhaus, mit einem Tropf. Sie müssen mit diesem Papier zur Station gehen.« Es hatte keinen Sinn, ihr das Prinzip einer Infusion zu erklären. »Den Flur entlang und dann nach rechts. Fragen Sie nach Shobha Devi.«
    Die Frau wackelte ratlos mit dem Kopf. Das Mädchen wimmerte im Fieber. Helen lächelte. »Shruti kann gesund werden, Mrs. Ram, aber nur, wenn sie hier bleibt. Verstehen Sie? Sie müssen Shruti bei uns lassen. Sie ist schwer krank. Sie könnte sterben.«
    Um zwei Uhr hatte Helen über fünfzig Patienten behandelt. Als der letzte gegangen war, saß sie ein paar Minuten still da. Es war eine Erleichterung, dass sie nach den fürchterlichen Tagenim Januar wieder ein bisschen Konzentration und Kraft hatte sammeln können. Doch je mehr Zeit verging, desto deutlicher zeigte sich, dass nichts mehr so war wie vor Alberts Tod. Man muss sich damit abfinden, hatte sie immer gedacht, dass diese Arbeit ermüdend und eintönig ist, selbst wenn man sich ständig zwischen Leben und Tod bewegt. Und oft auch entmutigend. Man muss sich damit abfinden, dass wenig Zeit für Nettigkeiten oder Eigenlob bleibt. Man macht einfach weiter. Sie war immer ein Stehaufmännchen gewesen. Warum war es so viel schwerer ohne Albert?
    Tatsächlich hatte Helen in der Vergangenheit nur selten den Mut verloren. In der Regel sprachen die Patienten schnell auf Medikamente an und erholten sich gut, was sehr befriedigend war; oder aber sie starben bald. Dann vergaß man sie. Man gewöhnte sich daran. Manche verließen ihre Betten, ehe sie entlassen wurden. Man erfuhr nie, was mit ihnen geschehen war. Viele der ambulanten Patienten gingen mit ihrer Medizin weg und kamen zur Nachuntersuchung nicht wieder. »Du richtest«, hatte Albert einmal gesagt, »den Kampfgeist, den du von zu Hause mitbekommen hast, gegen einen Kontrahenten, der niemals nachgeben wird: gegen die Krankheit. Und dann auch noch in der Dritten Welt.« Es war, als würde man gegen den Ozean kämpfen, hatte er eingewendet, oder gegen einen über die Ufer getretenen Fluss. »Immer noch ein leichterer Gegner als meine Eltern«, hatte sie lachend entgegnet. »Oder mein schrecklicher Bruder.«
    Beim Händewaschen schaute sie jetzt in den Spiegel. »Albert«, sagte sie tonlos. »Albert.« Vielleicht hatte sie ihn als Ehemann ausgewählt, weil sie wusste, dass er nie mit ihr konkurrieren würde; Albert hätte sie nie verletzt, und die vielen Male, als sie ihn verletzt hatte, war er nicht verletzt gewesen, weil er es nicht sein wollte. Er war mein Zuschauer, sagte sie ganz unerwartet zu sich selber. Jetzt habe ich nur noch den Spiegel.
    Während sie in das geheimnisvolle Graugrün ihrer Pupillen schaute, wurde Helen auf einmal von einem Schwindel ergriffen. Ganz kurz war sie sich selbst so gegenwärtig, dass sie beinahe in Ohnmacht fiel. Sie musste sich abwenden und eine Hand über die Augen legen.
    Helen aß mit einem jungen holländischen Arzt, der als Entwicklungshelfer gekommen war, in der kleinen Kantine des Krankenhauses. Sie erklärte ihm die Möglichkeiten, mit Langzeit-Krebspatienten umzugehen.
    »Sie meinen, ich soll akzeptieren, dass ich nichts tun kann?«, fragte er ernst.
    Er war ein gut aussehender junger Mann; einer, der vor fünf oder zehn Jahren unweigerlich einen Annäherungsversuch unternommen hätte.
    »Ich betrachte es lieber positiv«, sagte Helen lächelnd. »Wir vergeuden unsere Mittel nicht an aussichtslose Fälle.«
    Am späten Nachmittag besuchte sie ihre stationären Patienten. Mit zwei Infusionsschläuchen in ihrem

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