Traeume von Fluessen und Meeren
zu singen und zu posieren. Bariton. Elaine stimmte ein, war aber wegen eines vorbeifahrenden Autos kaum zu hören. Elaine hatte eine sehr schöne Stimme, die aber nicht sehr stark war. »Dad sagt mir ständig, meine Stimme sei nicht stark genug«, klagte sie häufig. Jetzt schüttelte sie im Regen den Kopf und sang. John sah, dass sie glücklich war.
Er ging schneller, um sie einzuholen. Wir können zusammen nach Hause gehen, dachte er. Wir können uns noch einmal lieben. Das ist meine Frau. Ich habe mich entschieden.
Als die Gruppe stehen blieb, um durch die Pub-Tür zu gehen, schob der untersetzte Regisseur seinen Arm um Elaines Taille und zog sie an sich. Die beiden waren hinter den anderen zurückgeblieben. Die Schauspieler warteten noch, weil eine andere Gruppe gerade aus dem Pub herauskam. Es gab ein kleines Durcheinander. Der Arm war eindeutig um ihre Taille geschlungen, das sah John. Und er blieb da auch liegen.
12
Im Wartezimmer für ambulante Patienten war es stickig. Paul Roberts hatte hineingeschaut, war über einen am Boden liegenden Menschen gestiegen, hatte gespürt, wie Frauen mit Babys auf dem Arm und alte Männer mit Verbänden sich an ihn drückten, den äußerst unangenehmen Geruch wahrgenommen und sich wieder zurückgezogen. Draußen vor dem Eingang saßen ein halbes Dutzend Frauen unter einem Lastwagen, wo sie Schatten fanden. Der Asphalt war aufgebrochen. Ein paar von den Frauen hatten Kinder dabei. Der Lastwagen schien aus den Vierzigerjahren zu stammen und seitdem nicht mehr gewaschen worden zu sein.
Paul ging auf und ab. Die Klinik war durch einen weißen Balken mit einem roten Kreuz darauf gekennzeichnet. Ein Holztor in einer schmutzigen roten Mauer führte hinein. Er beobachtete eine Frau, die sich aus einem Fenster im oberen Stockwerk beugte und über der Straße ihre Zähne putzte, einen Jungen, der auf dem Dach einen Drachen steigen ließ, ein Schwein, das den Müll in der Gosse durchwühlte. Das hier war das alte Delhi an den Eisenbahngleisen, hier war alles schmutzig. Der Drachen des Jungen verfing sich in Stromkabeln. Dann belästigte ihn eine Bettlerin. »Hallo, Sir.« Es war ein Mädchen, noch ein Kind, das an seinem Hosenbein zupfte. »Bitte, Sir.«
Normalerweise wäre Paul eilig weggegangen, aber an diesem Morgen war er entschlossen, vor der Tür der Ambulanz zu stehen, wenn Helen James eintraf. Er wurde immer frustrierter. DasMädchen zog jetzt an seinem Handgelenk. »Sir!« Paul gab ihr zwei Rupien, damit sie verschwand, und im gleichen Moment stieg Helen aus einer Autorikscha.
»Es hat keinen Sinn, Bettlern etwas zu geben«, erklärte sie und war damit auch schon an ihm vorbei und in der Klinik. Sofort ertönte ein Stimmengewirr. »Hallo! Hallo, Madam!«
Paul versuchte, mit der Menge Schritt zu halten, während sie in einen langen Flur einbog. »Wovor haben Sie denn Angst, wenn ich dieses Buch schreibe?«, rief er. »Wollen Sie es sich nicht noch einmal überlegen?«
Sie stand mit dem Rücken zu ihm und zog einen Schlüssel hervor, um die Tür zu ihrem Behandlungszimmer zu öffnen. Sie trug ein hellgrünes Kleid. »Sie haben kein Recht, mich zu belästigen«, sagte sie zu ihm.
»Bitte, noch ein richtiges Gespräch«, bat er, »dann verlasse ich Delhi. Das können Sie wohl kaum Belästigung nennen.«
Die Witwe zog sich auf der Schwelle die Schuhe aus und schaute dann zu ihm hoch. Ihr Gesicht war ernst, aber auch müde, und wirkte plötzlich sehr verletzlich. Hinter ihr sah Paul ein kahles Zimmer mit einem Tisch, einem Waschbecken und einem Metallschrank; an den Wänden hingen Poster in Hindi. Einen Moment lang ließ sie zu, dass er ihr in die Augen schaute. »Warum sind Sie so hartnäckig?«
»Mrs. James, bitte, lassen Sie uns noch einmal …«
Sie wandte sich ab und nahm einen weißen Kittel vom Haken. »Kommen Sie morgen Nachmittag gegen fünf Uhr wieder.« Ihr Tonfall war schroff. Schon drängelten sich die Leute, um als Erste an der Reihe zu sein. »Dann erkläre ich Ihnen, warum Ihr Vorhaben keine gute Idee ist. Bitte, meine Herrschaften!«, rief sie lauter. »Einer nach dem anderen, in der Reihenfolge der Ankunft, bitte. Abgesehen von Notfällen.«Wie sich herausstellte, gab es an diesem Morgen einen Notfall, aber die Mutter des Kindes war sich darüber nicht im Klaren, und deshalb untersuchte Helen das Kind erst nach zwölf Uhr: ein vierjähriges Mädchen mit heftigen Ohrenschmerzen, dramatisch angeschwollenem Gesicht und heißer, trockener Haut.
»Seit
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