Traeume von Fluessen und Meeren
sie unvermittelt. »Ich bin alt, und mein Leben ist vorbei. Albert war mein Leben. Ich brauche keine Gesellschaft.«
Er zuckte die Achseln. »Ich wollte Ihnen nicht zu nahe treten.«
Helens Gesicht war von unterdrückten Emotionen gerötet. Paul empfand Mitleid mit ihr; er zögerte: »Bitte verzeihen Sie, wenn ich noch einmal darauf zurückkomme, aber was Sie eben gesagt haben, hat mich wirklich betroffen gemacht. Sie sagen, Sie wollen weiter in der Klinik arbeiten, sich jeden Tag diesem Ansturm von Krankheit aussetzen, weil Sie, oder zumindest teilweise, weil Sie das Gefühl haben, Ihr Leben sei vorbei ? Mit – was? Zweiundfünfzig? Dreiundfünfzig? Verstehen Sie, ich …«
»Mein Gott!«
Helen schüttelte ungläubig den Kopf. Sie wandte sich ab und schaute zum Fenster hinaus, die enge Straße hinunter. Karren und Roller drängelten sich aneinander vorbei, bahnten sich einen Weg zwischen Frauen, die mit Körben voller leuchtender Früchte im Schneidersitz auf dem Boden hockten, und barfüßigen Kindern, die Spaß haben wollten. Hinter der dicken Scheibe des Kaffeehauses war das alles seltsam geräuschlos.
Sie wandte sich wieder Paul zu. »Ich möchte Ihnen nicht beiIhrem Buch helfen, und dabei bleibt es.« Sie griff nach ihrer Tasche. »Und diesmal, Mr. Roberts, übernehme ich die Rechnung, wenn es sich mit Ihrem Stolz vereinbaren lässt.«
»Kein Problem.«
Paul saß angespannt da, die runden Wangen von einem höflichen, resignierten Lächeln gekräuselt. Sie erhob sich unbeholfen zwischen Tisch und Bank und fing an, sich seitwärts hinauszubewegen. Er merkte, dass sie eigentlich noch nicht gehen wollte; sie hatte sich für ihr Treffen sorgfältig gekleidet, trug einen hübsch geschnittenen Rock mit Jacke. Sie ist ein bisschen größer als ich, fiel ihm auf. Im letzten Moment fragte er: »Was befürchten Sie denn, was ich schreiben könnte?«
»Fangen Sie nicht wieder damit an.«
Aber sie hielt inne.
»Verstehen Sie nicht«, sagte er, »was für eine außergewöhnliche Liebesgeschichte das gewesen ist: sie und Albert, dreißig Jahre zusammen, Ihre Kühnheit bei all Ihren medizinischen Missionen, sein bemerkenswerter Geist?« Paul unterbrach sich. »Übrigens, hatten wir am Ende unseres ersten Treffens nicht beschlossen, uns zu duzen?«
»Das war nach zwei Wodkas.« Sie verzog die Lippen. »Sie haben etwas Anmaßendes, das mir nicht gefällt. Vielleicht ist es etwas Amerikanisches. Schlussendlich geht es Ihnen doch nur darum, zu kriegen, was Sie wollen. Ihren Willen zu kriegen.«
»Ich kämpfe wohl um meinen Job«, sagte Paul. »So wie alle.«
Nach kurzem Schweigen schüttelte er den Kopf und fing noch einmal an: »Aber ehrlich, irgendetwas an all dem verstehe ich nicht.«
Sie stand noch, eine schlanke, sehnige Hand ruhte auf der Tischplatte.
»Und vermutlich macht mich das neugierig und ein bisschen aufdringlich. Ich habe das Gefühl, Sie … versagen sich irgendwie die Freude, über Albert zu reden. Ich bin sicher, es wäreIhnen ein Vergnügen, von ihm zu erzählen. Also frage ich mich, ob es wohl etwas gibt, das nicht gesagt werden darf.«
Sie setzte sich wieder.
»Meine Güte, Sie sind wirklich unverfroren.« Sie runzelte die Stirn. »Und Sie irren sich gründlich.«
»Dann überzeugen Sie mich.« Paul lehnte sich zurück, ließ aber seine kräftigen Unterarme auf dem Tisch liegen. »Überzeugen Sie mich, dass Albert James nur ein guter Mensch war, der nie etwas getan hat, was ein Buch wert ist. Wirklich, das sind Sie ihm schuldig. Es –«
»Bitte«, unterbrach Helen. »Ich bin ihm wohl kaum etwas schuldig, was er selber gar nicht wollte.«
Sie schaute den Amerikaner ungewöhnlich direkt an. »Kommt es Ihnen gar nicht in den Sinn, dass ich vielleicht gern mit Ihnen plaudern würde, oder auch mit allen möglichen anderen Leuten, wenn Sie nicht hauptsächlich daran interessiert wären, mit Albert Geld zu verdienen?«
»Tut mir leid, wenn es Ihnen so vorkommt«, sagte Paul gelassen.
Sie schaute auf ihre Armbanduhr, schob das Band an ihrem Handgelenk hin und her und schien zu überlegen. »Also gut, ich gebe Ihnen zwei Stunden. Zwei Stunden. In denen werde ich Ihnen alles Wissenswerte erzählen. Klingt das fair? Danach können Sie verzweifeln, das Projekt aufgeben und mich in Ruhe lassen.«
Paul grinste. »Ich nehme an. Ober!«, rief er. Er fragte den jungen Mann, ob sie alkoholische Getränke ausschenkten.
»Natürlich, Sir.«
»Sehr gut!« Er wandte sich Helen zu. »Was möchten
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