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Traeume von Fluessen und Meeren

Traeume von Fluessen und Meeren

Titel: Traeume von Fluessen und Meeren Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tim Parks
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mehr Albert etwas liebte, desto weniger fühlte er sich als Teil davon. Das betraf sogar das Leben selbst. Vielleicht war es so wie mit Kindern. Man liebt sie, und man lacht über sie. So ging es ihm auch mit den Kopfjägern in Neuguinea. Oder man könnte sagen, er war wie ein Kind, das Erwachsene beobachtet. Du weißt schon, Kinder finden uns oft lächerlich und überflüssig.«
    »Meine Kinder ganz sicher«, stimmte Paul zu, »sobald ich mehr als fünf Minuten mit ihnen verbringe.«
    Aber Helen war schon ganz woanders. »Albert hat immer gesagt, er wäre gerne für immer Kind geblieben.« Der Gedanke schien sie nachdenklich zu machen.
    Sie wollte weder Nachtisch noch Kaffee, sondern bat gleich um die Rechnung. Sie hat die Regie über den Abend übernommen, dachte Paul. Er ließ es zu und erkannte, dass sich ihreHaltung zwar grundlegend verändert hatte, sie aber immer noch genauso sehr, wenn nicht noch mehr, das war, was sie grundsätzlich war: eine Kämpferin, dachte er.
    »Diesmal zahle ich«, bot er an.
    »Danke«, sagte sie. Unten an der Treppe nahm sie lächelnd seinen Arm. »Komm mit.«
    Das Viertel war lebendig, Autos hupten, am Straßenrand wurde gekocht, Männer boten lautstark ihre Waren an, Menschen saßen in Grüppchen im Schneidersitz auf dem Boden und aßen aus Alufolie. Helen tätschelte eine Kuh, die an eine Wasserpumpe gebunden war. »Hallo Daisy, meine Süße! Ist es nicht verrückt«, sagte sie lachend und drehte sich zu Paul um, »dass die Leute ihre Genitalien anfassen, um rein zu werden? Kannst du dir etwas weniger Reines vorstellen als die Möse einer Kuh?«
    Helen James lief jetzt fast kokett voran und zog den Amerikaner hinter sich her. Sie behauptet, sie mag Indien nicht, dachte er, aber sie fühlt sich hier offensichtlich ganz zu Hause. Zu Hause in dem Gefühl, es nicht zu mögen vielleicht. Ohne Vorwarnung überquerte sie die Straße. Paul wurde durch vier oder mehr Spuren fahrender, hupender, ausweichender Autos, Roller, Autorikschas, Busse und Lastwagen geschleust. Jede Begegnung mit einem Fahrzeug war eine tolldreiste Herausforderung. Es war das komplette Chaos. Helen lachte laut, wenn Scheinwerfer sie erfassten und dann ausscherten.
    Auf der anderen Seite quetschten sie sich zwischen geparkten Fahrzeugen hindurch, und er stellte fest, dass sie auf einen zur Straße hin offenen Getränkeladen zusteuerte, der Alkohol ausschenkte. »Einen Viertelliter Royal Challenge und eine Tüte Wasser«, sagte sie zu dem Verkäufer. Der Mann trug trotz des warmen Abends einen Schal. »Komm rein«, bedeutete sie Paul.
    Der Laden bestand aus einem kleinen Raum mit schmuddeligen Regalen und einem großen Kühlschrank voller Bier. Helen ging hinter die Theke und durch eine Tür nach hinten. Paul folgteihr in einen Raum, dessen Wände mit Bierkisten vollgestellt waren. Dazwischen waren einfach ein paar Plastikhocker verteilt. Ein Mann Anfang sechzig saß alleine da und trank Whisky aus einem Plastikbecher. Er nickte ihnen zu, ohne zu lächeln.
    »Setz dich«, sagte Helen und zog sich einen Hocker heran.
    »Wir hätten doch in eine nette Bar gehen können«, protestierte Paul. »Oder ins Ashoka.«
    »Das hier ist eher mein Stil«, erklärte sie. »Und billiger.«
    Der Besitzer stand grinsend im Türrahmen. Er war untersetzt, dickbäuchig und pockennarbig. »Hallo Madam, ja Madam.« Offensichtlich kannte er sie. Der Raum wurde von einer nackten Glühbirne erhellt. Helen verteilte den Whisky auf zwei Gläser, riss mit starken Zähnen die Ecke der Wassertüte ab und goss vorsichtig mit beiden Händen ein. Paul setzte sich auf eine Kiste und schaute ihr zu. Ihre Handgelenke und Finger bewegten sich flink und entschlossen. »Ich hatte keine Ahnung, dass es solche Läden gibt«, sagte er.
    »Also« – sie reichte ihm sein Glas – »was glaubst du, was ich vor dir verberge, was meinen genialen Mann angeht? Den intelligentesten Mann des 20. Jahrhunderts. Das hat ein Rezensent tatsächlich mal geschrieben.«
    Paul trank einen Schluck. Der Whisky war rau. »Woher soll ich das wissen?«
    »Ich bin sicher, du glaubst es zu wissen.«
    Helen sagte jetzt auf Hindi etwas zu dem Mann an der Tür, und er lachte und zeigte dabei seine schmutzigen Zähne; der Mann, der alleine trank, nickte mit düsterer Miene.
    »Ich weiß es wirklich nicht«, sagte Paul. »Eine Affäre vermutlich. Oder mehrere. Es ist schwer, dreißig Ehejahre ohne jeden Zwischenfall zu überstehen.«
    Sie lachte bereits. »Ein postpuritanischer

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