Traeume von Fluessen und Meeren
war noch nie so lange allein gewesen. Es machte ihm Angst, aber er schaffte es nicht, den Bann zu brechen. »Nur ein Wort«, schrieb Elaine per SMS. »Du kannst nicht einfach so verschwinden.« Erschöpft von einem weiteren Tag mit Bauchschmerzen träumte John von Prüfungen. Zeichen und Zahlen erschienen unter seinem Stift, aber sie wurden ihm von einem fremden Willen diktiert. Er wusste gar nicht, was für eine Gleichung er eigentlich lösen sollte. In Panik wachte er auf.
Am Morgen duschte er und frühstückte auf dem Dach. Seine Kleider fühlten sich feucht an. Am ersten Tag, als die Frau an der Rezeption ihm den Weg aufs Dach gewiesen hatte, erwartete er hübsche Tischdecken und ein Büfett unter einem Bambusverdeck. Am Ende der steilen, engen Treppe standen zwei Plastikstühle und ein ramponierter Tisch, der auf dem unebenen Teerbelag der ansonsten leeren Dachterrasse wackelte. Alle anderen Gäste frühstückten in ihren klimatisierten Zimmern.
John trat ans Geländer. Auf einer Seite waren die Glasfassaden des Geschäftszentrums von Delhi, aber auf der anderen konnte man an Wäscheleinen und Antennen vorbei bis zum India Gate schauen. In der dunstigen Hitze wirkte das Sonnenlicht fahl. Die warme Luft schwirrte von Vögeln und Vogelschreien, Autohupen und Straßenhändlern, und es roch nach Benzin und Verbranntem. Als der Kellner ihm seine Rühreier brachte, musste er die Krähen verscheuchen. Fröhlich rief er: »Die sind sehr hungrig, Sir!« Die Vögel sammelten sich, während John aß; erhörte das Kratzen ihrer Klauen auf dem Wellblechdach über der Treppe.
Der Kellner hatte ein Exemplar der Times of India auf sein Tablett gelegt, und er las einen Artikel über obligatorische Aids-Tests für Eisenbahnangestellte. Ein Labor in Bombay behauptete, es habe einen Protein-Cocktail entdeckt, der das Leben um bis zu zwanzig Jahre verlängerte. John las die Details nicht. Obwohl Vater immer ein Eigenbrötler gewesen ist, dachte er jetzt, hat er nie dramatische Erfolge für sich beansprucht. Eher im Gegenteil. Die Muster, über die er schrieb, waren nie für nutzbringende Manipulation geeignet, sondern eher anfällig für Zerstörung. John hörte auf zu kauen. Dad war Defätist, dachte er. Er hat mir nicht geholfen, weil er nicht geglaubt hat, dass Hilfe möglich ist.
Während er Marmelade verstrich, beobachtete John die Krähen. Es war heiß, richtig heiß. Er atmete Hitze. Heute werde ich Mutter besuchen, entschied er. Eine beharrliche Gereiztheit zog ihn zu ihr hin. Ebenso beharrlich widerstand er. Er wollte sie nicht sehen. Er musste etwas klären, ehe er Mum besuchte. Aber was? Etwas, das sie zwingen würde, Vernunft anzunehmen.
Er aß auf und spürte, wie seine Enttäuschung sich in Zorn verwandelte. Ich bin hier gestrandet. Meine Karriere ist zu Ende, ehe sie angefangen hat. Das Labor würde ihn jetzt bestimmt nicht mehr wollen. Elaine wird mich auch nicht mehr wollen. Niemand würde ihm je wieder Geld geben. Er saß am Tisch, umgeben von den Krähen, die auf dem Geländer und dem Treppendach umherstolzierten. Sein Vater hatte Krähenfüße um die Augen gehabt. »Wenn du Muster untersuchen willst, brauchst du nur in den Spiegel zu schauen«, hatte Mutter lachend gesagt. Dads Augenwinkel waren wie ein Flussdelta. Er war immer so angespannt, so konzentriert. Aber worauf konzentrierte er sich? Auf Träume, Träume von jungen Begleitern. Und sind diese beiden Gestalten vielleicht nur Platzhalter für dich, John? hatte ergeschrieben: ein junger Freund, der mit dem alten, kranken Albert James zusammen ein Zelt aufbaute, der mit ihm am Strand entlanglief, am Rande der Brandung. Dads Stirn lag immer in tiefen Falten. Für den japanischen Regisseur muss Elaine so eine junge Begleiterin sein, dachte John. Ein Kind. Ein so großer Altersunterschied war obszön. »Kapierst du nicht«, hatte sie geschrieben, »dass du genau das provozierst, wovor du Angst hast, wenn du einfach so abhaust?« Ich werde zu Mum gehen und eine Erklärung verlangen, beschloss John. Er schob seinen Stuhl zurück. Noch ehe er an der Treppe war, kratzten die Schnäbel der Krähen schon über seinen Blechteller.
Kaum war er auf die Straße getreten, meldete sich sein Darm. Er musste eilig ins Hotel zurück. Wie soll man etwas zuwege bringen, wenn die Gedärme verrückt spielen? Ein Teil von ihm war froh darüber. Dann wurde er noch zorniger. Er war stinkwütend. Bananen waren die Lösung. Er ging wieder auf die Straße und entdeckte eine Frau,
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