Traeume wie Samt
Situation, emotional und finanziell. Molly vermißte ihre Mutter sehr, aber sie fand nur wenig Zeit, angemessen zu trauern. Sie mußte sich um zu viele Dinge kümmern. Ihre größte Sorge galt Kelsey. Und dann natürlich die unsichere finanzielle Situation der Familie. Ohne Samanthas regelmäßiges Einkommen drohte die Verelendung. Jasper Abberwick war der Inbegriff eines in seinen Forschungen gefangenen Erfinders. In den Tagen nach dem Tod seiner Frau schaffte er es nicht, sich mit der Geldnot der Familie auseinanderzusetzen. Er flüchtete sich in seine Kellerwerkstatt und überließ es seiner älteren Tochter, die Krise zu meistern. Molly schätzte die Lage dagegen realistisch ein und unternahm die nötigen Schritte. Sie verließ die Universität und suchte sich einen Job.
Das Geschäft, dessen Besitzerin sie heute war, hieß damals noch nicht Abberwick Tea & Spice, sondern Pipewell Tea, zu Ehren seiner Inhaberin Zinnia Pipewell. Pipewell Tea drückte sich in ein dunkles, schmuddliges Mauerloch in der Nähe des Pike Place Market. Der Umsatz lief schlecht. Seattle huldigte dem Kaffee, nicht den feinen Teesorten. Zinnia konnte sich eine Verkaufshilfe kaum leisten. Molly spürte von Anfang an, daß sie der älteren Frau leid tat. Zinnia hatte sie aus Mitleid eingestellt, nicht weil sie eine Ladengehilfin brauchte, denn die Geschäftslage war mehr als desolat.
Molly war entschlossen, ihrer neuen Arbeitgeberin die Großzügigkeit zu vergelten, damit diese ihren Entschluß nie bereuen mußte. Sie verschrieb sich dem Ganztagsjob mit der gleichen Energie und Begeisterung, die sie vorher für ihr Studium aufgebracht hatte. Eine andere Möglichkeit gab es nicht. Nach einer Woche in Zinnias Teeladen hatte Molly erkannt, daß etwas geschehen mußte, wenn der Laden das nächste Jahr überleben sollte. Bei einem Konkurs wäre Mollys Job ebenfalls verloren gewesen. Nach einigen Marktstudien schlug sie der alten Dame vor, eine Auswahl lose verpackter Gewürze zusätzlich in ihr Sortiment aufzunehmen. Zinnia ließ sich für den Plan gewinnen. Für Restaurantführer und Gourmets war Seattle eine Feinschmeckerstadt. Molly wußte, daß das Interesse an exotischen Gewürzen groß war. Nachdem sie als regelmäßige Nachschubquelle Lieferanten für getrocknete mexikanische Chilischoten bis zu Safran aus Spanien ausfindig gemacht und feste Verträge abgeschlossen hatte, kümmerte sie sich um die Verpackungsfrage und die Werbung. Der Laden änderte seinen Namen in Pipewell Tea & Spice. Statt auf ein modernes europäisches Ambiente zu setzen, das die Cafés bevorzugten, wählte Molly eine altmodische Ausstattung. Das Ergebnis war ein Verkaufsraum, der an die aus dem neunzehnten Jahrhundert stammenden Hafenspeicher der großen Gewürzhändler erinnerte.
Das Geschäft lief gut. Molly expandierte sehr vorsichtig. Sie bot einen Versanddienst an, so daß die auswärtigen Kunden ihre Einkäufe nicht in Tüten nach Hause befördern mußten. Außerdem nahm sie Kochbücher und fertig verpackte Gewürzmischungen in das Angebot auf. Sie erstellte Kataloge. An der Fensterfront richtete sie eine Teebar ein. Sie nutzte neueste wissenschaftliche Erkenntnisse über die gesundheitsfördernde Wirkung der verschiedenen Teesorten und wandte sich mit geschickten Marketingstrategien auch an Vollwertkostfreunde und Kaffeetrinker, die nach neuen Genüssen suchten. Als diese Strategie erste Erfolge zeigte, bemühte sie sich um die Anhänger des New Age und der spirituellen Bewegungen. Sie lud einen Seminarleiter ein, der eine Einführung in die ehrwürdige Kunst der japanischen Teezeremonie abhielt. Die Bank bekam ihr Geld. Jasper lieh sich mehr. Das Leben ging weiter. Irgendwann in dieser Zeit erkannte Molly, daß sie niemals an die Universität zurückkehren würde, um ihr Studium zu beenden.
Zinnia machte sie zu ihrer Geschäftspartnerin. Mit Blick auf ihren Ruhestand schlug sie vor, den Laden umzubenennen, um die zukünftigen Veränderungen deutlich zu machen. Nie würde Molly das überwältigende Gefühl von Freude und Stolz vergessen, das sie an dem Tag empfand, als das neue Schild der Abberwick Tea & Spice Co. über der Ladentür angebracht wurde. Ein Jahr später kaufte sie Zinnias Hälfte der Anteile auf. Der Pachtvertrag mußte erneuert werden. Molly beschloß umzuziehen. Sie wählte große, helle Räume oberhalb der kaskadengesäumten Treppenanlage, die zum Hafen hinunterführte. Es war der ideale Standort, um sowohl die Touristen als auch die
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