Traeume wie Samt
genug tränenreiche Anklagen gehört. Er sei zu distanziert, zu wortkarg, zu kalt. Bis er Olivia begegnet war, waren Harrys Beziehungen immer wieder an Langeweile oder wütender Verzweiflung gescheitert. Aber bei Olivia hatte er einem wachsenden Gefühl der Einsamkeit nachgegeben. Er war Mitte Dreißig. Die Sehnsucht nach einer echten Bindung zu einer Frau war so stark geworden, daß er der Versuchung nachgegeben hatte. Er hatte sich Olivia langsam und vorsichtig, Schritt für Schritt, geöffnet. Das Ergebnis war eine Katastrophe gewesen. Sie hatte recht. Der Sex war unheimlich geworden.
Harry wußte, daß es ein Fehler gewesen war. Solange er eine gewisse emotionale Distanz einhielt und die Dinge auf die körperliche und intellektuelle Ebene beschränkt blieben, konnte er sich unter Kontrolle halten. Doch es gab diese trostlosen Augenblicke, in denen er nach etwas hungerte, das er nicht benennen konnte. In letzter Zeit kamen diese Momente immer häufiger. Mehr als jeder Vampir nach Blut dürstete, sehnte er sich nach einer dunklen Erfüllung, die nicht einmal er selbst begriff. In letzter Zeit häuften sich diese verlangenden Augenblicke nicht nur und zogen ihn in dunklere Stimmungen, als er in der Vergangenheit jemals gekannt hatte, sondern wurden auch intensiver. Eine Angst, die früher nur vage zu spüren und leicht zu verdrängen gewesen war, kehrte mit alarmierender Regelmäßigkeit an die Oberfläche zurück. Die Angst, geisteskrank zu werden. Jedesmal mußte er mehr Willenskraft aufwenden, um sie zu bezwingen.
Das Küchentelefon klingelte, als Molly eben die abschließende Seite des letzten Erfinderprojekts zu Ende gelesen hatte. Sie griff über den Tisch und nahm den Hörer ab.
»Hallo?«
»Haben Sie etwas zum Abendessen bekommen?« fragte Harry ohne Einleitung.
Molly lächelte. »Ja, danke. Ich kann sehr gut für meine Ernährung sorgen.«
»Ich weiß.«
Molly runzelte die Stirn. »Alles in Ordnung? Sie klingen verstört.«
»Tun Sie mir einen Gefallen, und nennen Sie mich nicht verstört. Bezeichnen Sie mich als arrogant, pedantisch, starrsinnig oder alles andere, was Ihnen einfällt, aber bitte nicht verstört. In Ordnung?«
»In Ordnung. Sie klingen nicht verstört, sondern erschöpft. Das wollte ich sagen. Geht es Ihnen nicht gut?«
»Olivia ist vor wenigen Minuten gegangen.«
»Hm.«
»Mein Cousin Brandon hat beschlossen, seinen Job im Familienunternehmen aufzugeben. Olivia will, daß ich ihm das ausrede.«
»Verstehe.« Molly zögerte. »Können Sie das?«
»Das bezweifle ich. Ich bin nicht einmal sicher, ob ich es versuchen soll. Können wir unser Essen morgen abend nachholen?«
Molly zögerte.
»Bitte«, sagte Harry leise.
»Gut. Ich freue mich darauf. Oh, übrigens, Harry, ich habe gerade den neuesten Stapel Finanzierungsanträge gelesen und dabei einige wirklich interessante Projekte entdeckt. Ich kann es kaum erwarten, daß Sie einen Blick darauf werfen.«
»Ich auch nicht.«
»Sie klingen nicht gerade begeistert.«
»Bis morgen abend werde ich es sein.«
»Sie haben recht. Es war ein langer Tag.«
»Ja. Gute Nacht, Molly.« Harry schwieg für einen Moment. »Danke, daß Sie mit mir nach Hidden Springs gefahren sind.«
»Es hat mir gut gefallen. Ich glaube, Kelsey hat recht. Ich sollte öfter etwas unternehmen. Gute Nacht, Harry.«
Sehr langsam hängte Molly den Hörer ein. Dann saß sie eine Weile ruhig da und lauschte auf das Haus, das tröstende, vertraute Geräusche von sich gab. Sie bedeuteten Zuhause. Molly dachte an Kelseys Rat, das Haus zu verkaufen. Es war wahrscheinlich ein logischer Schritt, aber sie konnte sich nicht mit dem Gedanken anfreunden. Nach einer Weile legte sie den letzten Antrag auf den Stapel zurück und stand vom Tisch auf. Die Küchenbeleuchtung schaltete sich mit einem Flimmern automatisch aus, als sie den Raum verließ. Molly stieg die gewundene Treppe hinauf und ging durch den Korridor in ihr Zimmer.
Kurze Zeit später glitt sie ins Bett. Mit hinter dem Kopf gefalteten Armen blickte sie lange in die Dunkelheit über sich. Schließlich drehte sie sich zur Seite und schlief ein.
Ihre Träume waren eine schaurige Mischung aus roten Königen, Messern und unsichtbaren Bedrohungen. Dazu kam ein gedämpftes Geräusch, daß das Gefühl der Gefahr vergrößerte. Mollys schlaftrunkener Verstand brauchte einige Sekunden, um sich bewußt zu werden, daß dieses Geräusch nicht zu ihrem Traum gehörte. Schließlich wurde ihr klar, daß etwas Wesentliches
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