Traeume wie Samt
nicht stimmte. Angst durchschoß ihr Bewußtsein, und sie erwachte ganz. Sie öffnete die Augen. Im selben Moment packte sie kaltes Entsetzen. Eine dunkle Gestalt kroch, in schwarze Tücher gehüllt, unter ihrem Bett hervor und erhob sich über sie. Molly erkannte ein skelettartiges Gesicht, gähnende Löcher anstelle von Augen und eine klauenartige Hand, die auf sie zukam.
Sie war vor Schreck gelähmt. Ein Schrei blieb ihr in der Kehle stecken. Die Gestalt beugte sich über Mollys Bett, und das mechanische Surren wurde stärker. Die Klauenhand begann sich ruckartig zu bewegen. Der Überlebensinstinkt löste Mollys erstarrte Glieder. Sie warf die Decke zurück und ließ sich auf der anderen Seite vom Bett rollen. Mit einem dumpfen Geräusch kam sie auf dem Boden auf. Sie rappelte sich auf und rannte zur Tür.
Die Lampen im Korridor schalteten sich aufgrund ihrer Bewegungen selbsttätig ein. Molly blickte über die Schulter, um zu sehen, wie nah der Verfolger hinter ihr war. Da bemerkte sie, daß ihr die Gestalt, die unter ihrem Bett hervorgekrochen war, nicht gefolgt war. Sie hing noch immer schwankend über den zurückgeworfenen Laken, die Klauenhand in die Luft gereckt. Plötzlich hörte das surrende Geräusch auf, als wäre etwas ausgeschaltet worden.
»O nein«, flüsterte Molly. »Nicht schon wieder.«
8
Das schrille Klingeln des Telefons durchbrach Harrys Träume, in denen immer wieder Kartenspiele vorkamen, die nur aus roten Königen bestanden. Er wußte, daß er die Königin finden mußte, sonst wäre alles verloren. Aber das verdammte Telefon störte seine Konzentration.
Er rollte zur Seite und griff in einer Mischung aus Gereiztheit und böser Vorahnung nach dem Hörer. Dabei sah er auf die Uhr. Kurz vor ein Uhr morgens. Anrufe zu dieser Zeit bedeuteten unweigerlich Ärger. »Trevelyan.« Er richtete sich halb auf und lehnte sich gegen die Kopfkissen. Dem Traum wenigstens war er entkommen. Für eine Weile.
»Harry, ich bin es. Molly.«
Das atemlose Zittern ihrer Stimme wirkte wie ein Guß mit kaltem Wasser auf Harrys Sinne. Plötzlich war er hellwach. Jeder Muskel seines Körpers spannte sich kampfbereit. »Was ist passiert?«
»Etwas sehr Seltsames. Erinnern Sie sich an die Schreckschußpistole, die jemand neulich vor meiner Tür aufgebaut hat?«
»Verdammt, ja.«
»Wer immer hinter diesem Streich steckt, hat mir gerade wieder einen gespielt, glaube ich.«
»Mistkerl«, flüsterte Harry und umklammerte das Telefon. »So schlimm wie beim erstenmal?«
»Das Prinzip ist ähnlich, aber heute war die Wirkung noch größer. Ich glaube, in meinem ganzen Leben habe ich noch keinen solchen Schrecken bekommen.«
»Ist alles in Ordnung mit Ihnen?« Harry war bereits aus dem Bett und eilte durch das Zimmer zum Schrank.
»Ja. Mir geht es gut. Es war harmlos. Nur sehr unheimlich.« Molly zögerte. Ihre Stimme wurde zu einem leisen, verlegenen Murmeln. »Tut mir leid, Sie gestört zu haben. Ich weiß auch nicht, warum ich Sie angerufen habe. Ich habe Ihre Nummer gewählt, ohne wirklich darüber nachzudenken.«
»Es ist in Ordnung.« Mit dem Hörer zwischen Schulter und Ohr riß Harry die Schranktür auf.
»Ich hätte nicht um diese Zeit anrufen sollen.«
»Es macht wirklich nichts. Ich bin schon unterwegs.« Er zog die erste Hose an, die er fand, eine olivgrüne Freizeithose. »Wenn ich das Auto erst aus der Garage geholt habe, bin ich schon fast bei Ihnen.«
»Danke.« Die Erleichterung in Mollys Stimme war hörbar.
»Dieses Mal schalten wir die Polizei ein.«
»Lassen Sie es gut sein, Harry. Ich möchte nichts übereilen. Sicher handelt es sich nur um einen weiteren …«
»Ich bin in ein paar Minuten bei Ihnen.« Harry warf den Hörer auf die Basisstation. Er griff nach einem Hemd, glitt in seine abgenutzten Turnschuhe und lief zur Tür.
Den Gedanken an den roten König verdrängte er.
Die Straßen waren leer. Zehn Minuten, nachdem er die Garage verlassen hatte, passierte Harry das massive, schmiedeeiserne Tor und fuhr die Zufahrt zu dem alten Gemäuer hinauf, das Molly ihr Zuhause nannte. Die Torflügel waren vom Hausinneren aus geöffnet worden.
Als er den Motor abgestellt hatte, warf er einen prüfenden Blick auf die Außenseite des Hauses. In jeder Fensteröffnung strahlte Licht, einschließlich der Bodenluke. Molly mußte durch die Zimmer gegangen sein und überall die Lampen eingeschaltet haben. Wer immer hinter diesem Streich steckte, hatte ihr erfolgreich einen Schrecken eingejagt.
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