Traeume wie Samt
Wort über die Szene gesagt, deren Zeugin sie in Leons Krankenzimmer geworden war, doch sie verstand auch so, daß Josh nichts davon wissen sollte.
Es war beinahe Mitternacht. Molly hatte Josh eingeladen, sie in die Kantine zu begleiten, nachdem er vor wenigen Minuten vom Bett seines Großvaters zurückgekehrt war. Harry war mit dem Ausfüllen der Krankenhausformulare und der Versicherungsunterlagen beschäftigt. Wieder schienen alle wie selbstverständlich davon auszugehen, daß das seine Aufgabe war. Die anderen Trevelyans sprachen im Warteraum leise miteinander, während sie sich mit der Wache an Leons Bett abwechselten.
»Kopf hoch, Josh. Ihr Großvater hat es bis jetzt geschafft.« Molly nippte an dem ausgesprochen schlechten Tee, den sie am Tresen erstanden hatte. Sie haßte Teebeutel. Das Ergebnis war in nichts mit frisch aufgebrühtem Tee zu vergleichen. »Der Arzt sagt, sein Zustand habe sich stabilisiert. Ich denke, daß seine Chancen, bis morgen früh über den Berg zu sein, mit jedem Augenblick steigen.«
»Aber er sprach, als erwartete er den Tod. Er erklärte, daß er mir etwas sagen wolle, was ihn schon lange beschäftige.« Josh rührte mit dem Plastiklöffel in seinem Kaffee. »Er hat mir gesagt, daß er sich die ganzen Jahre geirrt hat, als er versucht hat, mich zum Rennsport zu bringen.«
Molly sprach mit neutraler Stimme. »Tatsächlich?«
»Er sagte, die Trevelyan-Männer hätten immer aus dem Bauch und mit ihren Reflexen gelebt. Aber die Welt sei anders geworden. Jetzt zähle Verstand und Bildung. Er sagte, daß ich mehr Grips besäße als er und mein Vater zusammen und daß ich ihn nicht vergeuden solle.«
Molly nickte. »Ihr Großvater wünscht sich offenbar eine andere Zukunft für Sie als den Weg, den er und Ihr Vater eingeschlagen haben.«
»Ja.« Josh zögerte. »Ich wollte immer die Uni beenden und promovieren. Seit ich dreizehn war, wollte ich so arbeiten wie Harry. Aber Großvater meinte immer, ein Mann muß sich beweisen, indem er dem Tod ins Auge sieht und auf die Gefahr pfeift. Er muß immer aufs Ganze gehen, sonst ist er ein Weichling. Harry hielt er für ein Wunder ohne Mumm in den Knochen.«
»Hm.«
Josh sah von seinem Kaffee hoch. »Er änderte seine Meinung auch dann nicht, als er herausfand, was geschehen war, nachdem Harrys Eltern ermordet worden waren.«
Molly setzte ihre Tasse ab und starrte Josh an. »Was genau ist denn passiert?«
Josh machte ein bedrücktes Gesicht. »Harry hat Ihnen nicht die ganze Geschichte erzählt?«
»Nein.«
»Ich hätte nichts sagen sollen. Beide Seiten der Familie kennen die wesentlichen Einzelheiten. Aber Harry spricht nie darüber.«
Molly erschauerte. »Das verstehe ich. Aber Sie können mich jetzt nicht hängenlassen. Was ist passiert?«
Josh sah in seinen Kaffee, als befragte er ein Orakel. »Ich kenne die ganze Geschichte nur, weil ich Harry einmal im Schlaf rufen gehört habe, als ich vierzehn war. Ich dachte, es wäre etwas Furchtbares geschehen, und bin durch den Flur in sein Zimmer gerannt. Harry saß auf der Bettkante und starrte aus dem Fenster. Er sah aus, als wäre er gerade aus einem Alptraum aufgewacht.«
»Erzählen Sie weiter.«
»Ich war nicht sicher, ob er mich überhaupt wahrnahm. Ich fragte ihn, was los sei.« Josh schloß die Finger fester um die Tasse.
»Was hat er gesagt?«
»Nichts, für eine endlos lange Zeit. Er war mir unheimlich, wenn Sie die Wahrheit wissen wollen. So hatte ich ihn noch nie erlebt. Er wirkte immer so stark und in sich ruhend. Beherrscht. Aber in jener Nacht hatte ich das seltsame Gefühl, daß er sich nur mit Mühe zusammenriß. Es war, als ob er sich selbst aus tausend Stücken und Splittern wieder zusammensetzte, wenn Sie wissen, was ich meine.«
Molly dachte an die Nacht, als sie Harry aus dem Fenster starrend vorgefunden hatte, einen Teil von Kendalls Attrappe in der Hand. Sie erinnerte sich an den erschreckend verletzlichen Ausdruck in seinen Augen, der ihm so unähnlich war. »Ich glaube, ja.«
»Nach einer Weile begann er zu sprechen. Aus irgendeinem Grund, vielleicht weil ich direkt nach dem Traum zu ihm gekommen war, sprach er mit mir, wie er es noch nie getan hatte. Ich werde diese Momente nie vergessen. Er saß auf seinem Bett, starrte in die Nacht hinaus und erzählte mir, was an dem Tag geschehen war, als Onkel Sean und Tante Brittany getötet worden waren.«
Tiefes Mitgefühl stieg in Molly auf. »Harry war dabei?«
»Meine Tante und mein Onkel besaßen ein
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