Traeume, zart wie Seide
ich habe zum ersten Mal mit einem Mann geschlafen. Mit Gray. Ich habe Angst, dass ich ihn wirklich liebe und er mir das Herz bricht. Und ich lerne Dinge über mich, die mich von dir und Alex und Grand-Em zu entfer nen scheinen. Von allem, was mir vertraut ist. Ich weiß nicht mehr, wer ich bin und wo ich hingehöre.
„Joy?“
„Alles in Ordnung, ich freue mich nur, dich zu sehen.“ Joy wischte sich über die Augen. „Tut mir leid.“
„Wieso das denn? Ist doch nicht schlimm, wenn einem mal die Tränen kommen.“
Als sie durch den Bahnhof gingen, fragte Joy: „Wie geht es Grand-Em?“
„Viel besser. Es ist ganz unglaublich, sie kann sich jetzt länger allein beschäftigen und ist viel ruhiger geworden. Nate hat sich oft um sie gekümmert – sie sitzt am Küchentisch und liest ihre alten Tagebücher, während er kocht. Offenbar gefällt ihr der Essensduft in der Küche.“
„Das ist ja wunderbar.“ Joy fiel ein großer Stein vom Herzen. Jetzt, wo sie so viele Aufträge hatte, musste sie öfter nach New York fahren und auch zu Hause regelmäßig arbeiten. Wenn sie damit ihre Familie nicht übermäßig belastete, fühlte sie sich weniger schuldig.
„Und wie geht es Alex?“
Frankies Gesicht verdüsterte sich.
„Was ist denn?“, fragte Joy erschrocken.
„Sein Bein muss noch einmal operiert werden. Der Titanstab, den sie ihm letztes Mal eingesetzt haben, ist nicht festgewachsen. Wenn es diesmal wieder nicht klappt, muss vielleicht …“ Sie unterbrach sich.
„Dann muss was?“, fragte Joy entsetzt.
„Amputiert werden“, erwiderte Frankie tonlos.
„Oh mein Gott“, stieß Joy hervor. „Das darf doch nicht …“
Frankie nahm sich sichtlich zusammen und sagte mit festerer Stimme: „Daran dürfen wir jetzt gar nicht denken. Wir sollten uns darauf konzentrieren, dass alles gut geht.“
Joy nickte langsam. „Wann ist der OP-Termin?“
„Noch diese Woche.“
„Ich bin so froh, dass ich rechtzeitig wieder hier bin.“
Auf der zweistündigen Heimfahrt erzählte Frankie alle Neuigkeiten, während Joy nachdenklich aus dem Fenster schaute. Je näher sie Saranac Lake kamen, desto heimischer fühlte sie sich wieder, und als sie schließlich in die Einfahrt des White Caps einbogen, konnte sie es kaum erwarten, Grand-Em und Alex wiederzusehen.
Nach dem Aussteigen blieb Joy neben dem Wagen stehen und atmete tief die klare Luft ein. Durchs große Küchenfenster sah sie Nate und seinen Freund und Souschef Spike, die sich grinsend und wild gestikulierend über einen Laib Brot beugten. Als sie die Küche betrat, begrüßten die beiden Männer sie mit Hurrageschrei, und sie umarmte beide.
„Und wer ist der Neue hier?“, fragte sie und deutete auf den Herd, den sie nicht kannte.
Nate wiegte den Kopf. „Der alte Ofen hat vor ein paar Tagen den Geist aufgegeben, und wir konnten dieses Ausstellungsstück ergattern, aber wir sind noch nicht sicher, ob wir Freunde werden.“
„Dieses blöde Ding da hat mein Brot ruiniert“, beschwerte sich Spike.
„Ja, die Temperatur lässt sich nicht richtig einstellen.“
„Dann erzähl uns mal was von der großen Stadt“, forderte Spike und zog ihr einen Stuhl heran. Die Männer gaben ihr Kostproben von ihren neuesten Kreationen, und sie saß mit Frankie am Tisch und erzählte und lachte, während die beiden das Abendessen kochten.
Kurz vor dem Essen klingelte das Telefon.
„Ich geh schon“, sagte Frankie, kam aber kurz darauf zurück. „Es ist für dich. Gray Bennett.“
Joy wurde rot und stand hastig auf. Im Büro strich sie sich die Bluse glatt, bevor sie den Hörer nahm.
„Hallo?“
„Warum hast du nicht angerufen?“, fragte Gray vorwurfsvoll, dann seufzte er. „Tut mir leid, das war wohl keine nette Begrüßung.“
Sie lachte. „Ich wollte mich nach dem Abendessen melden.“
„Hattest du eine gute Reise?“
„Vor allem eine lange. Gab mir Zeit zum Nachdenken.“
Nach kurzem Schweigen sagte er: „Das kann gefährlich sein.“
„War es aber nicht.“
„Worüber hast du denn nachgedacht?“
Jetzt wusste sie nicht, was sie sagen sollte. „Nichts Wichtiges.“
„Joy?“
„Ja?“
„Ich vermisse dich.“
Bevor sie etwas sagen konnte, fügte er hinzu: „Du willst jetzt sicher wieder zu deiner Familie, aber ich rufe morgen wieder an.“
In Joy stieg ein so tiefes Glücksgefühl auf, dass es ihr schon wieder Angst machte. Sie hatte befürchtet, dass er sie einfach vergessen würde, wenn sie weg war, aber danach klang es eher
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