Träume(h)r (German Edition)
verfiel bei der Stimme des missratenen Zwillings in absolute Panik, die ihn zu hysterischen Schreien animierte. Ole konnte kaum verstehen, was er von seinem Rücken aus rief.
»Lauf Ole! Ich will hier nicht sterben. Lauf!«
Ole tat wie ihm geheißen und lief, so schnell er konnte, mit dem Obelisk de Luxor, einem panischen Angsthasen und seinen eigenen Habseligkeit im Gepäck die Treppen herunter, aus der Eingangstür hinaus und noch drei Straßen weiter, um am Ende vor Erschöpfung auf dem Kopfsteinpflaster der Stadt der Liebe zusammenzubrechen. Erst jetzt öffnete Marc wieder seine Augen.
»Wir sind doch nicht tot, oder?«, fragte er außer Atem.
»Natürlich nicht, du Idiot. Ich habe uns gerettet!«
Marc lag neben Ole auf der Straße und lachte erleichtert aus sich heraus. Seine Fantasie hatte ihm einen riesigen Schrecken eingejagt und ihn kurzzeitig in einen wahr gewordenen Horrorfilm hineinversetzt.
Nach einer erholenden Verschnaufpause auf dem Tratoir hielten die zwei Gefährten ein vorbeifahrendes Taxi an und ließen sich zu dem nächstgelegen Bahnhof bringen, um endlich ihre Reise fortsetzen zu können.
Am Pariser Gare de l’Est angekommen, war es zwei Uhr nachts. Die beiden stellten ziemlich schnell, mithilfe der Infotafel, fest, dass sie in dieser Nacht nicht mehr in Richtung Lissabon aufbrechen würden. Sie waren zu spät.
»Der nächste Nachtzug vom Bahnhof Paris Austerlitz nach Madrid-Puerta de Atocha geht morgen um 18:53 Uhr«, sagte Marc erschöpft.
Daraufhin ging er mit Ole zu einem Kiosk, der auch zu dieser späten Stunde geöffnet hatte. Der kleine Laden befand sich außerhalb des Bahnhofes. Dort angekommen füllten sich die Taschen seines Rucksacks erneut mit Fressalien, um sicher zu gehen, dass der Riese nicht wieder nach zwanzig Minuten von seinem unglaublichen Hunger sprechen würde. Marc nahm an, dass sich in dem Magen seines Kumpels ein schwarzes Loch oder etwas anderes in der Art befinden musste, das alles einfach so verschwinden ließ. Er selbst kaufte sich nur abgepackte Sandwiches, die in Frankreich genauso schlecht schmeckten, wie sie es vermutlich in jedem Land der Welt taten.
Als er den Kiosk verlassen hatte, war Ole noch immer mit der Auswahl seiner Snacks beschäftigt. Aus Langeweile begann Marc nun den Haupteingang des alten Bahnhofs zu fotografieren. Während er versuchte in der menschenleeren Nacht den imposanten Eingang des Gare de l’Est perfekt einzufangen, hörte er hinter sich, vom Kiosk ausgehend, eine Stimme.
»Ist schön, unser Bahnhof, nicht wahr?«
Marc drehte sich überrascht um. Ein Obdachloser, der neben dem Kiosk mit all seinen Habseligkeiten auf dem Boden saß und eine Flasche Bier trank, sprach in fast akzentfreiem Deutsch zu ihm.
»Sie sind doch Deutscher, oder? Ich habe gehört, wie Sie sich mit Ihrem Freund beim Hereinkommen unterhielten. Ansonsten entschuldigen Sie bitte«, sagte der Mann in überaus freundlichem Ton. Seine Art zu Reden wirkte nicht gerade wie die, eines klischeehaften Obdachlosen, fand Marc.
»Ehm, ja. Mein Freund, also der noch im Kiosk ist und ich, wir sind Deutsche«, antwortete er verunsichert.
»Ach, wie schön. Dieser Bahnhof hier wurde 1849 durch die »Compagnie du chemin de fer de Paris à Strasbourg« eröffnet. Sie nannten ihn ganz einfach »Embarcardère de Strasbourg«. Das bedeutete in ihrer Sprache »Straßburger Ankunftsstelle«. Er wurde mit der Zeit immer weiter vergrößert und erhielt, wenn ich mich nicht täusche, um 1854 herum seinen heutigen Namen.«
Er sagte die Worte in einem unbeschwerten Ton. Marc hörte keinesfalls heraus, dass der Mann ihn beeindrucken wollte oder auf irgendein Lob aus war. Er redete einfach vor sich hin und Marc hörte ihm weiter zu.
»Woher wissen Sie das?«, fragte er beeindruckt.
»Nun ja, vielleicht werden Sie es mir nicht glauben, aber ich war einmal Professor an der Universität. Hier, in unserem schönen Paris.«
Nachdem Marc das Äußere des Obdachlosen gemustert hatte, konnte er sich nur schwer vorstellen, dass dieser Mann einmal Studenten unterrichtete. Lange, zottlige Haare, ein wilder Bart, lumpige Kleidung und eine große Tasche neben ihm, ließen kaum auf einen akademischen Hintergrund schließen.
Allein die Unmengen an Büchern, gaben Grund zu zweifeln. Marc war verblüfft, wozu ein Obdachloser so viele davon brauchte. Er trat näher und betrachtete die Werke, die fast ausschließlich in fremden Sprachen abgedruckt waren. Es handelte sich dabei nicht nur um
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