Träume(h)r (German Edition)
nach so einem Prinzip weigerte sich Ole Reike zu arbeiten. Am darauffolgenden Tag drängte er seinen Kumpel dazu zwei Stunden früher in See zu stechen. Noch öfter wechselten sie ihre Position und noch weiter fuhren sie auf das offene Meer hinaus, aber trotz aller Bemühungen, endete auch ihr zweiter Seegang erfolglos. Erst als die Sonne unterging, zogen sie sich zurück. Lediglich den Sonnenschirm hatten sie dieses Mal eingepackt, der ihnen den gesamten Tag über ein schattiges Plätzchen im Boot sicherte.
»Wieder nichts gefangen?«, fragte der Fischer, als sie ihm an Land begegneten. Beide schüttelten den Kopf.
»Die Fische müssen sich an euch gewöhnen«, scherzte er. »Das wird schon besser werden!«
An diesen Satz sollte sich Marc in den kommenden Tagen noch häufig erinnern, aber sein Optimismus schwand langsam, denn es wurde eben nicht besser. Kein einziger Fisch hatte sich in ihrem Netz verirrt. Noch nicht einmal einen alten Schuh oder eine leere Blechbüchse zogen sie an Land. Nichts. Die sonst eher zurückhaltenden Fischer wollten ihnen sogar aus Mitleid etwas von ihrem Fang abgeben, aber die beiden lehnten alle Angebote dankend ab, da sie auf ihren eigenen Erfolg zählten, der früher oder später kommen müsste.
Heute waren sie schon drei Stunden auf See und Ole war in seinem Wahn kaum aufzuhalten. Er hatte ein irres Funkeln in den Augen, denn es machte ihn vollkommen verrückt, dass er im Boot sitzen musste, ohne Einfluss darauf nehmen zu können, was im Wasser geschah beziehungsweise nicht geschah. Am liebsten hätte er dem Glück auf die Sprünge geholfen und wäre ins Meer getaucht, um die Fische mit bloßen Händen in das Netz zu scheuchen. Zudem forderte er seinen Kumpel immer wieder dazu auf nähere Details über den Inhalt der Novelle Hemingways zu verraten, um möglicherweise daraus bahnbrechende Erkenntnisse zu gewinnen.
»Jetzt hör endlich auf zu fragen!«
Marc gingen allmählich die Lügen aus und er hatte ein verdammt schlechtes Gewissen gegenüber seinem Freund.
»Da bist du selbst Schuld! Du hättest das Ding nicht aus dem Fenster werfen müssen, dann würde ich dich auch nicht mit Fragen bombardieren. Aber mal im Ernst, das kann doch nicht wahr sein! Dieser Santiago hat es doch auch geschafft ohne Hilfsmittel riesige Marlins aus dem Wasser zu ziehen und wir verzweifeln schon an kleinen Fischen.«
Er entledigte sich seines T-Shirts.
»Ich werde jetzt nachsehen, was da unten los ist!«
Marc beschloss das Lügenmärchen lieber aufzulösen, bevor noch ein Unglück passierte.
»Ich muss dir etwas sagen!«
»Was ist denn?«, fragte Ole abwesend. »Wenn es wieder dieselbe Frage ist, die du mir den ganzen Tag schon stellst, dann kennst du die Antwort. Wir fahren erst wieder näher an die Küste heran, wenn wir das Netz voller Fische haben!«
So weit wie heute, waren sie bislang noch nicht herausgefahren, doch Ole würde bis nach Nordafrika rudern, falls es notwendig wäre.
»Es geht um etwas ganz anderes!«, antwortete Marc und sah zu wie sein Kumpel, jetzt nur noch mit einer Badehose bekleidet, eine Taucherbrille ins Wasser hielt, um deren verdreckten Gläser zu säubern.
»Worum dann? Hast du Hunger? Wenn ja, dann nimm dir eins von den Sandwiches, die uns Eduardos Frau gemacht hat oder schnapp dir ein paar Süßigkeiten aus meinem Rucksack. Der Innenraum unserer Yacht hatte leider keinen Platz für einen Gourmet-Koch, wie du ihn sonst gewohnt bist!«, sagte er sarkastisch und spülte nun seinen Schnorchel aus. Die Brille saß bereits glänzend in seinem Gesicht.
»Nein, auch kein Hunger. Es geht um das Buch!«
Marc wurde ernst.
»Ich war nicht ehrlich zu dir, was den Inhalt angeht.«
Ole hielt inne und blickte mit gerunzelter Stirn auf.
»Dieser Santiago hat nämlich gar nicht so viele Fische gefangen und auch kein so erfülltes Leben geführt, wie ich es dir erzählt habe, sondern er war bettelarm und hatte seit Monaten keinen Fisch gefangen. Deswegen musste er sogar Hunger leiden. Zwar hatte er am Ende einen riesigen Marlin am Haken, ihn jedoch, bis er wieder an der Küste angelangt war, gänzlich an die gefräßigen Haie verloren. Das war es! Ich wollte nur, dass du es weisst. Es tut mir leid!«
Entsetzt ließ Ole den Schnorchel fallen und kam langsam zur anderen Seite des Bootes herüber, wo sich sein Freund befand. Mit vorsichtigen Schritten ging dieser nach hinten, ohne dabei den Blick von ihm abzuwenden. Er blieb erst stehen, als seine Füße gegen den Bootsrand
Weitere Kostenlose Bücher