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Traeumer und Suender

Traeumer und Suender

Titel: Traeumer und Suender Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Matthias Goeritz
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Schauspielern mit auf den Weg gibt.»
    Der Interviewer sah den alten Mann nicht mehr an, er starrte direkt auf das Doppelmikrofon, das jetzt mit seinen zwei schräg versetzten Köpfen wie eine Schlangenzunge plötzlich auch in seine Richtung zeigte, ihn bannte, ihn festpinnte, hier auf der Couch in einem Haus bei einem alternden, todkranken Produzenten, der ihm ein Interview gab.
    Â«Und noch was, wenn wir den Tod des Polen zeigen – hier ist der DEFA-Film nicht zu toppen, hier bleiben wir beim Remake –, zwei Schüsse werden auf ihn abgefeuert. Den ersten kann er nicht glauben. Man sieht, wie sich sein Gesicht verzerrt. Kann man als Mensch überhaupt glauben, dass man jetzt sterben muss? Der zweite trifft ihn in den Rücken. Er schreit. Es ist der erste Schrei des Krieges.
    Und dann der Satz von Hitler: ‹Seit 5 Uhr 45 wird jetzt zurückgeschossen!›»
    Der Interviewer nahm sich zusammen. Er legte den Kopf nach rechts, sah den alten Mann, der aufrecht in seinem Krankenstuhl saß, gar nicht wie ein Sterbender, die Schnur der Sauerstoffmaske, die ihn mit dem an seinem Platz verbliebenen Sauerstoffgerät verband, zitternd wie der Draht einer Oberleitung.
    Â«Wir machen einen Schnitt: Der Morgen des 1. September. Hitlers Rede in der Kroll-Oper, wahrscheinlich dramatisch geschnitten, um den Ereignissen am Ende des Films Wirkung zu verleihen. Aber da wollen wir ehrlich sein.
    In Wirklichkeit ist er wohl eher müde gewesen. Hitler soll fahrig gewirkt haben, seine Stimme habe komisch geklungen, er habe aus dem Hals gestunken, zumindest hieß es bei einigen Beobachtern so. Eine schwache Rede am Beginn eines Krieges, der mehr als 40 Millionen Menschen das Leben kostet. Hohle Leere, auch in Berlin. Auf dem Rückweg Hitlers in die Reichskanzlei – wir haben ein großartiges Setdesign, das können die Italiener – wartet nur eine eigentlich kleine Menge, die Jugend ruft ‹Sieg Heil, andere stehen stumm da, erstarrt. Die Wortschmiede des Krieges haben für einen Moment nicht mehr das Sagen. Am Abend ertönen die Sirenen das erste Mal in Berlin, einlanger, durchdringender Ton, als hätte man ihn für das Ende der Welt erfunden. Luftangriffwarnung. Leute rennen durcheinander, Schuss von oben aus der Totalen, Gegenschuss, Beine, ein Durcheinander, verlorene Hüte, weinende Kinder, Gewimmel wie von Ameisen, deren Haufen durch einen Fußtritt zerstört ist. Ein leerer Platz, Himmel. Himmel, Himmel, Himmel. Die Flugzeuge kommen nicht. Noch nicht. Verstehen Sie? Erst mal sind es die Deutschen im Himmel über Polen, die kommen.»
    Es war der alte Mann, der jetzt den Blickkontakt zu dem Interviewer abgebrochen hatte, irgendwohin in die Ferne sah, die Augen auf eine Ecke im Halbdunkel des Zimmers gerichtet, neben den Kamin.
    Â«Hitler soll gesagt haben: ‹Wir werden sie auslöschen.› Ja.»
    Sie schwiegen beide. Eine ganze Weile. Die Geräusche des Platzes drangen durch den Vorhang. Der Interviewer glaubte, einzelne Stimmen und Sätze ausmachen zu können,
va be
,
Giorgio
,
come stai
, irgendetwas mit einer Eleonora, die gerade da war, um ihre Mutter zu besuchen, das Klirren von abgeräumtem Geschirr. Dann fing der alte Mann wieder zu sprechen an.
    Â«Hat diese Vertriebenenchefin nicht ihr Mandat niederlegen müssen, weil sie diese Kriegslügen einfach so weiterverbreitet? Nicht? Von wegen Polen habe im März 1939 mobilgemacht. Man habe dort genug Dreck am Stecken, nach dem Ersten Weltkrieg immer wieder neue militärische Auseinandersetzungen heraufbeschworen und die Deutschen im Grenzgebiet bedroht. Letztlich hätten also die Polen den Krieg gewollt. Das ist doch genauso als hätteman dem schleimigen Propagandagestammel der Nazis im Nachhinein recht gegeben.»
    Der Interviewer nickte. «Ja, aber sie hat dann nicht einmal mehr den Vorsitz in ihrer eigenen Stiftung bekommen, oder?»
    Â«Ach Papperlapapp, das war trotzdem ein Fanal für die Revanchisten. ‹Deutsche Opfer, deutsche Opfer, Menschenrechte auch für deutsche Opfer.› So wie sie das macht, ist das ein Hohn! Als Nächstes erklärt sie uns, dass die NSDAP doch eigentlich eine linke Partei gewesen sei. Ja, ist ja gut, ich rege mich über so was einfach wahnsinnig auf. Diese Geschichtspolitik. Politik auf dem Knochenacker ist das! Na, jedenfalls: Da ist Aufklärung nötig. Immer noch! Das sieht man doch, sonst rennen solche Leute

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