Traeumer und Suender
Nachwuchsproblem? Weil die Leute so wenig ins Kino gehen.»
Der Gedanke hätte Melanie gefallen.
«Jeder gelungene Satz ist ein Leben wert. Das haben Sie doch geschrieben, oder? Oh, die Arroganz, die in der Jugend steckt. Der Wille zur Kunst. Mit dem Alter werdenSie vorsichtiger. Wahrscheinlich wollen Sie ja eh eigentlich eigene Bücher schreiben, die Leute verzaubern, sie aufklären, sie besser machen. Machen Sie doch! Aber das trauen Sie sich ja nicht, das ist Ihnen zu viel Risiko, was? Jeder Satz ⦠ein Leben wert ⦠Gilt das auch für Bilder? Für Filme? Ich sehe schon, es gibt noch viel, was ich Ihnen erklären muss, damit Sie mich verstehen.
Ja, gut, verzeihen Sie mir, dass ich mich so habe gehen lassen, ich wollte Sie nicht angreifen, keineswegs. Das ist heute einfach nicht mein Tag. Erst die Sache mit Lars. Und das Licht. Gott, es schmerzt heute alles so. Wenn Sie alt werden, dann gibt es so eine Müdigkeit direkt hinter den Augen, als würde etwas von riesigen Lastern aus ihrem Kopf direkt in die Augäpfel geschüttet, hinter die Retina. Sie können es fühlen, als wäre alles zum ZerreiÃen gespannt. Ich weiÃ, es ist Unsinn. Aber ich lasse mir dann manchmal von Ralph einen Spiegel geben und betrachte meine Augen, ob sich da nicht Gegenstände abzeichnen, Dinge wie diese monströsen Panavisionskameras, mit denen wir in den Siebzigern noch gearbeitet haben, oder Gesichter, von Menschen, die aus meinem Kopf rauswollen, die ich schon viel zu lange mit mir herumtrage. Und nun kommen immer noch neue hinzu, immer noch mehr. So ein Festival ist kaum zu ertragen.
Die Verleihung ist morgen, und ich weià es schon ⦠Ja, wir wissen es. Das ist so. Das wussten Sie nicht? Es gibt Leute, die wissen vor der Ãffnung des Umschlags, welcher Film, welcher Star, welcher Regisseur draufsteht. Und, glauben Sie mir, das macht mich nicht glücklich. Stellen Sie sich mal vor, da wäre der Umschlag, man würde ihn öffnen, alles wartete gespannt und dann sähe man an dem verblüfften Gesicht des Moderators, der Umschlag ist leer. Was wäre dann? Würde er einen Witz machen, sich nach seiner Assistenz umsehen, sich etwas ausdenken? Einfach irgendeinenNamen, irgendeinen Film? Wie würden Sie sich in solch einer Sekunde verhalten? Diese Vorstellung finde ich spannender als das ganze niederschmetternde Cannes-und-die-Palme-Erlebnis. Ahh!
Wie unruhig alle wären, wie bemüht amüsiert sie sich ansähen, an Krawatten, in Handtaschen nestelten, keiner wüsste mehr, wie er sich jetzt, angesichts der Katastrophe, im Auge der Kameras verhalten soll. Ein wirklicher Filmmoment auf einem ansonsten träge und berechenbar gewordenen Festival. Dann ein Schwenk von den nervösen Fingern zu den nervösen Gesichtern, das hilflose Schulterzucken des Moderators, der peinliche Abgang. Kein Sieger, kein Name, kein Abschluss. Vielleicht sollten wir morgen weitermachen? Kommen Sie morgen zum Frühstück?»
Der Interviewer schüttelte den Kopf. «Mein Flug â¦Â»
«Ist gut. Ralph bringt Sie raus. Danke, dass Sie einem alten Mann zugehört haben.»
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Als er wieder in München war, meldete er sich sofort krank. Nicht dass er das als freier Mitarbeiter hätte tun müssen, er fühlte sich so aber sicherer. Ein, zwei Tage könnte er so noch rausschlagen, in denen er sich überlegen wollte, wie er dem Chefredakteur und seinem Stellvertreter entgegentreten würde, wie er ihnen erklären sollte, dass das Interviewprojekt mit dem Produzenten gescheitert sei. Die Maschine aus Cannes war am Mittag in Riem gelandet, er hatte sich, halb verfroren, obwohl auch in München schon annehmbare Biergartentemperatur herrschte, im Duty-free-Shop eine Flasche Bowmore geleistet, die wollte er jetzt zu Hause trinken.
Nich lang schnacken, Kopf in Nacken
. Seine Freunde aus Hamburg hatten ihm erzählt, dass es oben in der windigen Provinz Leute gab, die so alle ihre Blessuren und Minikrankheiten behandelten, kleine Trinkerkur, auf die er sich jetzt auch einlassen würde. Seit Melanie ausgezogen war, nahm er es nicht mehr so genau. Er zog das Leinenjackett fester um sich, stellte seinen Koffer absichtlich zwei Sitze weiter ab, an die Abtrennstange zur Wagentür, wenn der Koffer mit dem Gerät geklaut werden würde, dann könnte er immer noch sagen, dass es ein phantastisches Interview gewesen wäre, dass man ihm noch eine Chance geben
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