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Traeumer und Suender

Traeumer und Suender

Titel: Traeumer und Suender Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Matthias Goeritz
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sich letztes Jahr auf den Balearen gegönnt hatte, und verließ seine Wohnung.
    Am Hauseingang stieß er mit Frau Reindl zusammen, mit der er vor drei Tagen geschlafen hatte, vor seinem Abflug, als ihr Mann nicht da war. Tatjana, so hieß sie, aber für ihn würde sie immer Frau Reindl bleiben. Er hatte geklingelt, weil er sie bitten wollte, sich für zwei Tage um die Post zu kümmern, er erwartete dringende Pakete. Sie hatte ihm dafür alles abverlangt, aber das hatte er schon gewusst, im Haus war es ein offenes Geheimnis, dass die Reindl auf harten Sex stand, am liebsten gleich im Stehen an der Wand. Jetzt grinste sie ihn an und zog ihn für einen Zungenkuss hinter die Briefkästen, weil jemand im Hof bei den Fahrrädern stand. Flüsternd lud sie ihn ein, doch später vorbeizukommen, aber vor acht, ja, da komme ihr Mann. Er müsse ihr doch noch erzählen, von Cannes, und sie sollten doch reden, wie’s weitergeht. Er löste sich von ihr, hilflos nickend, ja, das müsse er wohl, bestätigend, das würde ein Riesenaufwasch werden heute, auch gut. Er dachte an Heloisa. Er würde sie anrufen. Am Stachus nahm er ein Taxi. Er musste an den Satz denken, den der Alte ihm vorgehalten hatte:
Alles Fleisch ist Gras
. Laberhannes, 12, 34.

III.
    Â«Riechen Sie das? Diese klare Schärfe. Die Schärfe von Salz, das sich in alte Steine gefressen hat.»
    Der alte Mann hatte allen Grund, poetisch zu werden. Das Zimmer war einfach beeindruckend: Die alte, von der See ins Gemäuer gekrochene Feuchtigkeit, das sorgsam, nur kaum durch die schweren Vorhänge gebändigte Licht, die angegriffenen Gobelins mit ihren verspielten Delfinen, Neptunen, schaumgeborenen Neriden – aller Reichtum der seefahrenden Welt wurde aufgefahren. Der alte Mann hatte seinen Rollstuhl ganz an die offenen Balkontüren gestellt, sodass es fast aussah, als würde er zwischen den Seestücken, die auch die Vorhänge als Stickerei verzierten, direkt in die geahnte azurne Horizontlinie eingehen.
    Â«Ah, an der Tür zu stehen und vor Ihnen liegt ein Morgen, der vom Geräusch der Motoren durchzogen wird, das ist unschlagbar. Hören Sie? Das sanfte Tuckern der Schiffsschrauben über der grünen Perle der Lagune, die Schreie der Möwen, die durch die Kanäle ziehen, das Meer schwappt wie eine Idee der Unendlichkeit hinein! Spüren Sie das? Auch wenn die Stadt eine beinah groteske Ansammlung von Fassaden und Ornamenten aus aller Welt sein mag, was wirklich bleibt von Venedig, ist der Geschmack der Freiheit, die sich die Stadt in den Jahrhunderten erkauft hat, die Freiheit, von der Furcht versklavt undgeknechtet zu werden, und dazu braucht man nun einmal Geld.
    Die ersten Siedler waren Bauern und Fischer, die auf ihren flachen Booten durch die Lagune vor den Hunnen flohen. Es ist schon merkwürdig, was Fluchten für neue Lebensimpulse auslösen.»
    Der Interviewer konnte es immer noch nicht fassen, dass er hier war, zurück im Gespräch mit dem alten Mann, der wieder besser aussah, mit offenem Hemd und Seidenschal saß er in einem Ohrensessel an der Balkontür seiner Suite.
    Â«Danke, dass Sie gekommen sind. Nehmen Sie Platz. Ich steige immer im
Danieli
ab, wenn ich in Venedig bin. Das Personal ist ein Schatz, wie in allen wirklich guten Hotels. Unaufdringlich, aber immer da, so wie Ralph, sehen Sie?»
    Der Hüne hatte sich ihm genähert, ohne dass der Interviewer ihn wahrgenommen hätte. Jetzt, wo er hinter ihm stand und er den Atem des Dieners auf seiner Kopfhaut spürte, hatte er plötzlich das Gefühl, von diesen beiden Männern umarmt zu werden.
    Â«Ja, lassen Sie ihn doch kurz ihre Jacke aufhängen. Es ist kalt geworden, finden Sie nicht? Auf dem Wasser, und sogar hier merkt man es. Der Herbst kommt, es zieht ganz schön. Und die Mauern sind so voller Feuchtigkeit, dass ich am liebsten morgens schon den Kamin anmachen lassen würde. Aber noch ist es ja warm.»
    Befreit von der Jacke seines dreiteiligen Anzugs – er hatte sich daran erinnert, wie konservativ der alte Mann immer gekleidet war – fühlte er sich wohler. Sein Gegenüber zu spiegeln, war nicht nur eine erfolgreiche rhetorische,sondern auch eine modische Taktik. Der Interviewer brauchte Vertrauen. Schließlich war dieser Trip nach Venedig, war dieses dritte Gespräch unter vier Augen – wenn man Ralph nicht dazu zählte – ein Rettungsanker für ihn

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