Traeumer und Suender
desillusionierter in ihren immer teurer werdenden Pseudowohnhöhlen verschimmelten, und genommen haben sie Tylenol, Speed, Coke, Alles-was-sie-kriegen-konnten, damit sie nicht aufgeben mussten zu träumen, bis irgendwann das Einzige, was sich in ihren Köpfen noch bewegte, die Vorstellung war, dass sie die Wäsche vom chinesischen Waschsalon abholen müssten, dass der Broadway das x-te Musical abgesetzt hatte, wo sie auch mal eine Probe für die Chorusline gehabt hatten, wann war das gewesen? Na, Gott sei Dank, da ging es andern ja noch viel schlechter! Vielleicht machten sich einige dieser Bewohner irgendwann auch Gedanken, was eigentlich passieren würde, wenn man die Küchendecke aufbohrte oder sie einfach, von den dauernden Erschütterungen des Durchgangsverkehrs auf der StraÃe porös geworden, plötzlich Placke für Placke herabfallen würde. Wie viele Kakerlaken mochten sich da wohl im fauligen Stroh befinden, Tierchen, die sich seit den zwanziger Jahren millionenfach vermehrt, ihre Subexistenzen aufgebaut hatten. Wie sehr das Ungeziefer die Stadt beherrscht und nicht umgekehrt. New York ist ein fauliger Traum, ein braun angelaufener Apfel, mehr nicht.»
Das zusammengerollte Heft, das dem Interviewer eben noch so feldherrlich erschienen war, zitterte, als setzte es das Zucken fort, das sich von den Augen des alten Mannes über das ganze Gesicht und den Oberkörper bis in die Arme, die Hände und schlieÃlich das Papier ausgebreitet hatte, wie ein unerhört hoher, plötzlicher Stromschlag in einem Blitzableiter.
«Täuschen Sie sich nicht. Wo Venedig herrschte und glänzte, hat New York nur die Secondhand-Geschäfte erfunden, das Einrichten hinter Scheinfassaden und Hochhaustürmen, das Leben auf Müll, auf den Knochen von Strandgut. Scorsese hat das eigentlich ganz gut gemacht, ich weià auch nicht, warum
Gangs of New York
nicht so gut rüberkommt, irgendwie glaubt man das alles nicht, und doch: Es ist wahr. Vielleicht ist es DiCaprio. Dem glaubt man sowieso nicht. Bis an die Zähne bewaffnet, stolzieren Popanze durch die Stadt, und jeder Tourist, der bleibt, macht es nur noch schlimmer; ich kann diese deutsche Sehnsucht nicht verstehen: wie ein Sklave der Stadt zu leben, nur um in
der Stadt
zu leben, in
the city
, Vorwahl Manhattan, 212, New York, New York, und dann von Energie zu faseln, obwohl man doch auch nur Zuschauer ist, einer der vielen, die sich einbilden, allein vom Dableiben und Zugucken, vom KartenabreiÃen, Praktikum machen, Studieren in
der Stadt
würde die Welt sich bessern.»
«Sie waren gerade dabei, etwas von sich zu erzählen.» Der Interviewer hoffte, dass dieser Satz nicht zu aggressiv klang. Eher wie eine Bestätigung, dass der Kurs, den die Unterhaltung eingeschlagen hatte, der richtige war.
«Was?» Der alte Mann schien für einen Moment aus dem Konzept gebracht. Er sah den Interviewer lange, mit müdenAugen an. Dann schüttelte er den Kopf und murmelte, wie zu sich selbst. «Ja, Sie haben recht. Ja.»
«Ich wollte Sie nicht verletzen. Ich meine, es ist etwas in Ihrer Stimme, das mich neugierig macht. Neugierig auf den Menschen, wenn Sie mir verzeihen.»
«Ach papperlapapp, â¹verzeihenâº! Sie haben recht. Was rede ich über die Stadt. Der Mythos von New York kann in einem Menschenleben sowieso nicht gebrochen werden. Also lassen Sie uns weitermachen. Mit mir. Ich war bei ABC, zuerst in der Akquise. Mein Englisch war ausgezeichnet, dafür waren die Kasseler Jahre gut gewesen. Und die Filme, die manchmal bei meinem Vorführjob im Smoky im Original liefen. Einer der Professoren an der Hochschule, ein Amerikaner, hatte einen Bekannten beim Sender, ich bekam ein Vorstellungsgespräch, alles lief gut. Ein richtiges Glückskind, hätte man meinen können, ein Vorzeigeflüchtling aus der Zone, der sich nicht bloà hocharbeitet, sondern von Jahr zu Jahr nach oben durchgereicht wird. Ich war dreiÃig, und mein Leben fing noch einmal an. Das wünschen wir uns doch alle, oder?»
Der Interviewer dachte an seine eigenen zwei, drei letzten Jahre. Festgefahren, dann wieder aufgebrochen. Ja, genau das war sein Wunsch gewesen, als er den Kontakt mit dem Magazin aufgenommen hatte, als er die Vorschläge für die Artikelserie über den alten Mann durchgeboxt hatte, er wollte weiterkommen, und München, das war sein New York gewesen. Oder eben doch nur sein
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