Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Traeumer und Suender

Traeumer und Suender

Titel: Traeumer und Suender Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Matthias Goeritz
Vom Netzwerk:
lächeln! Sie denken, das wäre Trotz oder Lebensmut. Das ist naiv. Glauben Sie, Sie würden mich kennenlernen, wenn ich Ihnen einfach mein Leben erzähle? Niemand kann das. Wir nehmen alle an, dass die anderen in etwa so wären wie man selbst. Das ist Notwehr. Wie soll man sonst mit irgendjemandem umgehen. Um uns wirklich jemandem anzunähern, müssten wir den Abgrund mit erzählen, der uns voneinander trennt. Doch das wäre schon Kunst. Sie müssten das Leben eines Menschen selbst erleben, es nicht bloß notieren, aber das kann keiner. Niemand kann wissen, wie es sich wirklich anfühlt, jemand anderer zu sein. Niemand. Und gerade deshalb versuchen wir es. Sie mit ihrem Gerät. Und ich mit meinen Filmen.»
    Der alte Mann zeigte auf das Aufnahmegerät, das dem Interviewer nun nur noch wie ein schäbiger Kasten vorkam, so ein Ding, wie es fliegende Händler in Dritte-Welt-Ländern für ihr kleines Warenangebot benutzten, nur dass er nicht mal etwas verkaufte, weil bei ihm außer dem Speicherchip eben nichts drin war. Er war bloß ein Ohr, nein, nur der Träger eines Ohrs, ein Ersatzbeichtstuhl, ein wandelndes Presse- und Auskotzbüro. Er merkte, wie er seufzte. Er musste die Luft angehalten haben, als der alte Mann ihn gleich zu Beginn seines Sermons so bestimmt, mit einerMischung aus Flehen, Abwehr und Beschwörung gemustert und zu dieser kleinen Tirade über die eigentliche Unmöglichkeit ihres Gesprächs angesetzt hatte, als die der Interviewer es ja selbst empfand.
    Â«Sehen Sie, ich habe mir nach unserem Telefonat ein paar Notizen gemacht, genau wie Sie sagten.»
    Es ist ein Machtspiel, sagte er sich. Weiter nichts. Du sitzt hier, genau da, wo er dich haben will, er dreht auf, und du drehst ab. Er will dich nur klein machen, damit du seinem Gerede folgst. Unkommentiert. Er hat einen Plan und du nicht. Hör auf mit der Selbstzerfleischung! Du brauchst nicht mehr defensiv sein, schließlich will er etwas von dir. Der Interviewer zwang sich, langsam und tief in den Unterbauch zu atmen, den Atem zu halten, Körperspannung aufzubauen. Du bist ruhig, sagte er sich, du atmest, du hast alle Kraft der Welt. Er konnte das, vom Karate. Der alte Mann zog ein schwarzes Notizheft aus seiner Jacketttasche. Obwohl es schmal war, nickte der Produzent beim Blättern immer wieder befriedigt vor sich hin. Das Heft schien bis zur Hälfte gefüllt zu sein. Erlenberg las lautlos, er bewegte die Lippen, lächelte oder verzog kurz den Mund, dann war er durch, durch mit dem Geschriebenen, und wandte sich, ohne das Heft wieder aufzuschlagen, Velder zu.
    Â«In Amerika anzukommen, damals, Anfang der Siebziger, das war für mich wie ein Neubeginn. Alle sagen immer, Freundlichkeit, ja, die Amerikaner breiten ihre Arme aus und schon bist du bei einer Familie zu Gast, dann bei der nächsten, aber das sei gespielt, da ginge es um nichts, das sei diese immigrantenfreundliche Attitüde, da stecke nichts Tiefes dahinter – na und? Auch im Konjunktiv kann manleben. Solange man kein Mexikaner ist und nur fürs Poolreinigen oder als Wanderpflücker für die Obstplantagen eingestellt wird, kann man es hier mit ein wenig Glück und Geschick wirklich schaffen!»
    Der Interviewer merkte, wie er unwillkürlich die Augenbrauen hob. Der alte Mann sah ihn sehr ernst an, bevor sich ein Grinsen über sein ganzes Gesicht ausbreitete und er belustigt, wie ein Kind bei einem überraschend einfach gewonnenen Spiel, den Finger auf sein Gegenüber richtete.
    Â«Sehen Sie, einen Moment lang haben Sie mir geglaubt! Sie sind reingefallen! Ich hab es deutlich gespürt, Sie haben gedacht, O Gott, jetzt erzählt der wieder diese Klischeestory! Stimmt.»
    Angeschmiert. Der Interviewer war sich sicher gewesen, der alte Mann hatte ganz leise «angeschmiert» geflüstert, so als wären sie Schulkameraden. Spielte der alte Mann nur mit ihm? Er forschte im Gesicht des Produzenten, konnte dort aber nur eine leichte Amüsiertheit über den kleinen Scherz entdecken, vielleicht auch eine Freude über ihr Beisammensein, hier im Hotel, in Venedig. Während der Biennale. Sicher hatte er hier wieder ein, zwei Filme am Start, Pferdchen laufen für den goldenen Löwen. Der alte Mann sah ihn an. Prüfend, ob sie jetzt weitermachen sollten. Dann rollte er das schwarze Heft in der linken Hand wie einen Marschallsstab und klopfte damit bedächtig an sein

Weitere Kostenlose Bücher