Träumst du noch oder küsst du schon?: Roman (German Edition)
dass sie ihre Galerie verlieren wird und ich meinen Job.
Moooment!
Mit ohrenbetäubendem Quietschen ziehe ich die Bremse an meiner negativen Gedankenspirale und reiße mich am Riemen. So geht das nicht. Mit dieser Einstellung kann ich da nicht auftauchen. Ich muss fröhlich sein, hoffnungsvoll, zuversichtlich. Allein dass Magda es geschafft hat, Artsy zu diesem Treffen zu überreden, ist ein ziemlich großes Ding. Nach all der langen Zeit im Geschäft kennt sie jede Menge Leute und hat schon viele Gefallen eingefordert, aber ausschlaggebend war wohl, dass sie und Artsy dieselbe Philosophie teilen: Kunst sollte kostenlos und frei zugänglich sein. Und das ist einfach genial.
Wobei seine Kunst allerdings nicht umsonst zu haben ist. Ganz im Gegenteil, seine Arbeiten rangieren irgendwo in den Hunderttausenden von Dollars.
Jetzt nur keine Haarspalterei, sage ich mir streng, als wir an ein Tor kommen, das sperrangelweit aufsteht und windschief nur noch halb in den Angeln hängt, daran ein Schild, auf das ein unfreundliches »Zutritt verboten« gekritzelt ist. Wir biegen
in einen unbefestigten Schotterweg ein. Der Taxifahrer schien ganz genau zu wissen, wo wir hinmüssen, als ich ihm sagte, ich wolle »zu Artsys Haus« (mehr hatte ich als Anschrift nicht), und während ich auf dem Rücksitz hin und her geschleudert werde, sehe ich durch die Windschutzscheibe ein baufälliges Bauernhaus auftauchen.
»Weiter kann ich nicht fahren«, erklärt mir der Fahrer ein paar Minuten später.
»Okay, super, danke.« Ich zahle und steige aus, und als das Taxi rückwärts den Weg zurückfährt, schaue ich mich um.
Die Beschreibung »abgelegen« war jedenfalls keine Übertreibung seitens des Journalisten. Hoch oben wie ein Schwalbennest an den Rand einer Klippe gebaut, steht das Haus inmitten heckenbestandener grüner Hügel und wilder, überwucherter Weiden. Meilenweit ist nichts zu sehen als das Meer auf der einen Seite und das Farmhaus auf der anderen. Ich marschiere darauf zu. Alt und verwittert sieht es aus, eins der Fenster scheint mit Brettern zugenagelt, und eine Handvoll Hühner läuft frei herum. Mutig klopfe ich an die Tür. Nichts. Ich klopfe ein zweites Mal. Wieder nichts.
Worauf ich mich frage, ob er vielleicht unsere Verabredung vergessen hat. Unsicher starre ich auf die abblätternde Farbe an der Tür und weiß nicht so recht, was ich machen soll. Anrufen kann ich ihn nicht. Artsy hat kein Telefon – weder Festnetz noch mobil. E – Mailen geht auch nicht – er hat auch kein Internet und keine Mailadresse. Magda muss weder Kosten noch Mühen gescheut haben, um ihn zu kontaktieren, hat Freunde von Freunden auf der Insel angerufen, die ihm die Nachricht überbrachten, fast wie damals bei der Résistance.
Ich warte noch ein paar Minuten, aber inzwischen ist es klar wie Kloßbrühe, dass niemand da ist. Was irgendwie seltsam ist für einen eigenbrötlerischen Einsiedler, aber vielleicht ist ihm heute nicht so nach Einsiedelei. Vielleicht war ihm nach einem
kleinen Ausflug. Zögerlich mache ich einen Schritt von der Veranda und stehe dann ziemlich dumm rum, weil ich nicht weiß, was ich machen soll. Aber dann beschließe ich, mich ein bisschen umzuschauen. Wo ich schon mal hier bin.
Wie ein Storch im Salat stakse ich in meinen neuen Sandaletten durchs Gras und gehe außen um die baufällige Scheune und die Außengebäude herum. Da steht ein verlassener Traktor, und ein rostiges Fahrrad lehnt an der Wand, da hinten ist ein Schlagzeug … ein Schlagzeug? Was macht denn ein Schlagzeug mitten auf dem Acker? Neugierig schirme ich die Augen gegen die strahlend helle Sonne ab und starre es verdattert an, bis mein Blick auf einen Mann fällt, der ein Stück weiter ein Gemüsebeet umgräbt.
Vielleicht kann der mir ja weiterhelfen. Hoffnungsvoll rufe ich zu ihm rüber: »Entschuldigen Sie bitte. Wissen Sie vielleicht, wo ich Artsy finden kann?«
Der Mann richtet sich auf, dreht sich um, und als er mich sieht, kommt er zu mir rübermarschiert. Er ist groß und breitschultrig und trägt eine Sherlock-Holmes-Mütze, eine Knickerbockerhose und Socken mit Rautenmuster und sieht aus wie die Bronzestatue vor der U – Bahn – Station in der Baker Street in London. Ein wahrlich sonderbarer Anblick. Und dass er einen buschigen Rauschebart trägt und Pfeife raucht, macht es nur noch eigenartiger. Ebenso wie die Fliegerbrille auf seiner Nase.
Die nimmt er jetzt ab und schaut mich an. »Wer will das wissen?«, fragt er mit einem
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