Träumst du noch oder küsst du schon?: Roman (German Edition)
überhöre ich das einfach.« Sie grinst, und dann setzt sie sich plötzlich kerzengerade auf wie ein Erdmännchen auf Spähposten. Sie ist gespannt wie ein Flitzebogen, genau wie Jenny und Simon, wenn sie ein Eichhörnchen gesichtet haben.
»Was hast du denn im Visier?«
»Einen dunkelhaarigen, gutaussehenden Fremden. Auf zwei Uhr.« Sie weißt in Richtung Wasser.
Oje. Und ich weiß, was das bedeutet.
»Harold?«
»Möglicherweise.« Sie nickt, setzt die Sonnenbrille auf und lässt sich wieder ins Gras sinken.
Auf einmal komme ich mir vor wie bei einer Beschattungsaktion.
»Was war denn eigentlich neulich Abend mit Daniel?«, frage ich und versuche das Gespräch von einem imaginären Mann auf einen real existierenden zu lenken. »Als ich gegangen bin, sah es aus, als wärt ihr schon ein Herz und eine Seele.«
»Oh, wir hatten eine Menge Spaß. Er ist ganz süß«, murmelt sie gedankenverloren, ohne den Blick von dem dunkelhaarigen,
gutaussehenden Fremden zu wenden. Würde mich nicht wundern, wenn sie gleich auch noch ein Fernglas auspackt. »Er hat mich gefragt, ob ich morgen Abend mit ihm ausgehen will.«
»EineVerabredung? Davon hast du mir ja gar nichts gesagt!«
»… aber ich habe natürlich dankend abgesagt.«
»Weil er nicht Harold ist«, bemerke ich tonlos.
»Ganz genau.« Sie nickt und ignoriert geflissentlich mein offenkundiges Missfallen. »Ich habe ihm gesagt, dass es für uns keine gemeinsame Zukunft gibt.«
Entgeistert starre ich sie an. »Das hast du ihm gesagt? Hast du ihm etwa von Harold erzählt?«
»Natürlich«, entgegnet sie, als sei das das Normalste der Welt, einem Mann zu sagen, dass man nicht mit ihm ausgehen kann, weil eine Hellseherin einem vorhergesagt hat, dass man einen dunkelhaarigen, gutaussehenden Fremden namens Harold kennenlernen wird.
Aber für Robyn ist es das wohl.
»Warum denn nicht?«, fragt sie arglos.
Weil er dich jetzt für ein völlig verrücktes Huhn halten muss , möchte ich ihr am liebsten sagen, stattdessen beschränke ich mich jedoch auf eine diplomatischere Antwort: »Vielleicht würde sich ja rausstellen, dass du ihn magst, wenn du dich mit ihm verabredest.«
»Genau. Und davor habe ich ja auch Angst«, entgegnet sie und guckt mich etwas entnervt an. »Was sollte ich denn in dem Fall bitte machen, wenn ich Harold kennenlerne?« Schnell späht sie wieder rüber Richtung Wasser. »Ach, Mist.«
Ratlos folge ich ihrem Blick. Der dunkelhaarige, gutaussehende Fremde hat den Arm um eine hochschwangere Frau gelegt.
»Wie dem auch sei, ich habe mich trotzdem mit ihm verabredet. Keine richtige Verabredung, bloß ganz zwanglos, als
Freunde.« Seufzend wischt sie die Grashalme von ihrem Kleid und steht auf, um nach Hause zu gehen.
»Gut.« Ich nicke zustimmend und stemme mich hoch. »Vielleicht lernst du ihn ja dann erst mal so kennen, und wer weiß, womöglich magst du ihn ja.«
»Nein, sag das nicht!« Sie wirkt leicht panisch. »Das darf unter keinen Umständen passieren. Was soll ich denn dann machen, wenn ich Harold endlich treffe?«
Man beachte, sie sagt »wenn« und nicht »falls«.
»Aber was, wenn du Harold irgendwann tatsächlich kennenlernst und ihr euch nicht versteht?«, argumentiere ich, als wir durch den Park zum Ausgang laufen.
Anklagend schaut sie mich an, als wollte sie sagen: Das ist aber gar nicht nett, Lucy , und würdigt mich keiner Antwort. »Ach, übrigens, einer meiner Kunden hat mir Theaterkarten für eine Vorstellung nächste Woche geschenkt«, sagt sie und wechselt rasch das Thema. »Ein neues Broadway-Stück, Tomorrow’s Lives. Ich wollte dich fragen, ob du vielleicht hingehen möchtest.«
»Ooh, ja, gerne«, rufe ich begeistert. »Ich habe noch nie ein Stück am Broadway gesehen.«
Siehst du wohl. Ich sitze nicht rum und heule dir hinterher, Nathaniel Kennedy , schießt es mir durch den Kopf.
»Die Sache ist bloß die, ich selbst kann nicht hingehen. Ich muss zu einem Heilerkongress. Falls du also jemand anderen fragen möchtest, wie beispielsweise, ach, weiß nicht …« Der Name Nate entschlüpft tonlos ihrem Mund und hängt über ihr in der Luft wie eine Sprechblase.
»Ich frage meine Schwester«, erkläre ich entschlossen.
Worauf Robyn sich eine Locke um den Finger wickelt und nachdenklich innehält. »Lucy, ich will mich ja nicht einmischen, aber bist du dir sicher, dass das nicht bloß ein dummer kleiner Streit zwischen zwei Liebenden ist?«
»Ganz bestimmt nicht.« Entschlossen schüttele ich den Kopf.
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