Träumst du noch oder küsst du schon?: Roman (German Edition)
muss daran denken, was Robyn über die alte Legende von der Seufzerbrücke gesagt hat.
»Entschuldige, Lucy, ich hab einen Anruf auf der anderen Leitung«, sagt Kate unvermittelt. »Der Vorstand der Bank, die
das Darlehen finanziert. Melde mich später.« Und ehe ich noch ein Wort sagen kann, hat sie auch schon aufgelegt.
Fünf Minuten später stehe ich vor der Galerie inmitten eines wuselnden Ameisenhaufens von Besuchern. In Schwärmen stehen die Leute draußen auf der baumbestandenen Straße, und die milde Abendluft ist erfüllt von Lachen, Plaudern und Gläserklirren. Es ist eine schicke, teuer gekleidete Meute, die sich hier versammelt hat, aber es ist ja auch eine schicke, teure Galerie.
In Chelsea wimmelt es nur so von großen, erstklassigen Galerien, und diese hier nun ist in einer umgebauten Autowerkstatt untergebracht, einem großzügigen, luft- und lichtdurchfluteten Gebäude, in dem große Namen wie Damien Hirst ihre Werke ausstellen und großformatige Installationen gezeigt werden.
Im Grunde genommen wirkt Number Thirty-Eight dagegen wie mein Wohnzimmer zu Hause, denke ich, während ich mich durch die wohlduftende Menschenmenge nach drinnen schlängele. Große weiße Räume. Große, beeindruckende Arbeiten. Große Preisschilder. Unauffällig schlage ich in meinem Katalog den Preis eines bestimmten Gemäldes nach und bekomme Glupschaugen, als ich die vielen Nullen am Ende sehe. Und nein, das ist kein Tippfehler.
Die heutige Ausstellungseröffnung ist einem neuen aufstrebenden Stern am Künstlerhimmel gewidmet, über den ich schon einiges in der Pressemitteilung gelesen habe, die uns in die Galerie geschickt wurde und die meine Neugier geweckt hat. Der Künstler ist bloß ein paar Jahre älter als ich. Was ich deshalb so genau weiß, weil ich das gemacht habe, was ich immer mache, wenn ich etwas über einen Künstler lese: Ich schaue auf das Geburtsdatum. Albern, ich weiß, aber wenn sie älter sind als ich, wiegt mich das irgendwie in der trügerischen Gewissheit, dass ich noch ein bisschen Zeit habe.
Zeit wofür? Für meine eigene Ausstellung?
Streng rufe ich mich zur Ordnung. Selbst jetzt kommt es mir so vor, als klammere sich immer noch ein winzig kleiner Teil von mir an diesen Traum. Als könne er ihn einfach nicht loslassen.
Langsam schlendere ich durch die Galerie. Das ist eine der guten Seiten an meinem Job: Ich werde zu allen Vernissagen eingeladen. Na ja, diesmal war es Magda, die die Einladung für mich abgestaubt hat, und für sich gleich eine mit, aber sie konnte dann doch nicht mitkommen. Sie musste ihre alte Tante besuchen, die gerade in ein Altersheim gezogen ist.
Beim Gedanken an Magda wird mir ein bisschen mulmig. In den letzten Tagen hat sie immer so ein sorgenvolles Gesicht gemacht. Warum, sagt sie mir nicht, und immer, wenn ich sie frage, ob alles in Ordnung ist, antwortet sie mit ihrem üblichen »Bestens, alles bestens«, aber ich weiß, dass es mit der Galerie nicht gerade zum Besten steht, und ich weiß auch, dass das daran liegt, dass wir nicht annähernd so viele Gemälde verkaufen, wie wir eigentlich müssten. Ja, trotz unserer großen Ausstellungseröffnung, mit der wir eigentlich das Geschäft ankurbeln wollten, sind die einzigen Bilder, die wir bislang verkauft haben, die, die Nate erstanden hat.
Nate. Ungebeten kommt mir sein Name in den Sinn, und ich verscheuche ihn auf der Stelle wieder. Nein, an den will ich jetzt nicht denken. Von dem habe ich die Nase gestrichen voll. Mein Knöchel pocht unangenehm, und ich verziehe schmerzlich das Gesicht. Hau ab, verschwinde.
Eine Kellnerin schwebt mit einem Tablett voller Champagnerkelche vorbei. Ich lasse mir ein Glas geben und trinke ein Schlückchen. An den köstlichen kalten Blubberbläschen nippend sehe ich mich um. Also, was schaue ich mir als Erstes an …?
Doch statt an einem Kunstwerk bleibt mein Blick an einer
vertrauten Gestalt mit Baseballkappe, ausgewaschenem T-Shirt und Jeans hängen, die einer Kellnerin mit einem Tablett voller Kanapees auflauert. Er steht mit dem Rücken zu mir, aber ich erkenne ihn sofort.
Der ungeladene Vernissagenbesucher.
»Hallo.« Ich schleiche mich von hinten an und tippe ihm auf die Schulter.
Worauf er sich umdreht, und als er mich sieht, hebt er beide Hände, als wolle er sich ergeben. In der einen hält er ein Champagnerglas, in der anderen eine kleine Blätterteigvorspeise. »Schuldig im Sinne der Anklage«, ruft er grinsend, ehe ich überhaupt den Mund aufgemacht
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