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Transit

Transit

Titel: Transit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Seghers
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Konsulat. Es sollte erst in einigen Stunden geöffnet werden. Das Treppenhaus war gedrängt voll bis auf die Straße. Zuweilen erschien der Brasilianer am Fenster, starrte herab, machte den Mund auf und schloß ihn wieder, als sei er vor Entsetzen zu schwach, einen Laut hervorzubringen. »Sie werden nicht öffnen«, sagte der eine. »Sie müssen«, sagte der andere, »da doch das Schiff abfährt.« – »Niemand kann sie zwingen, uns zu öffnen.« – »Wir werden sie zwingen«, schrie ein dritter. – »Dadurch wird uns noch kein Visum ausgestellt.« Mein Freund stand schon still mit gerunzelter Stirn in der Reihe. Das Fenster wurde noch einmal geöffnet, ein schönes Mädchen in grünem Kleid sah verblüfft herunter und lachte auf. Die brasilianischen Transitäre antworteten ihr mit Wutgeheul. Ich stellte mir auf dem Heimweg vor, daß sie warten und warten müßten, daß sie immer noch warteten, wenn das Schiff auch schon abfuhr, ein leeres Schiff in ein leeres Land.
    Am Abend klopfte mein Zimmernachbar. Er rief: »Man läßt mich nicht nach Brasilien.« – »Bist du augenkrank?«– »Ich hatte alles. Ich hatte auch das Gesundheitsattest des Augenarztes. Das Konsulat wurde schließlich sogar geöffnet. Ich drang sogar in das Zimmer des Konsuls. Da war gerade ein Telegramm eingelaufen: Man forderte den Ariernachweis. Ich aber muß jetzt, nach dem Gesetz dieses Landes, zurück in mein Ursprungsdepartement. Und weil ich muß, will ich heute noch. Ich will zurück in das Dorf, aus dem ich fortzog, weil mein Vater eingesperrt wurde, den ich damals auslösen sollte, der inzwischen aber gestorben ist. Ich aber, ich werde jetzt dort ein neues Visum erwarten. Mir steht diese Stadt auch schon bis zum Hals, und ich will meine Ruhe.«
    Ich begleitete ihn zum Nachtzug. Ich sah von dem hochgelegenen Bahnhof hinab auf die nächtliche Stadt, die nur schwach erleuchtet war aus Furcht vor den Fliegern. Seit tausend Jahren war sie die letzte Bleibe für unsereins, die letzte Herberge dieses Erdteils. Ich sah von der Bahnhofshöhe hinunter ihr stilles Abgleiten in das Meer, den ersten Schimmer der afrikanischen Welt auf ihren weißen, dem Süden zu gerichteten Mauern. Ihr Herz aber, ohne Zweifel, schlug immer weiter im Takt Europas, und wenn es einmal aufhören würde zu schlagen, dann müßten alle über die Welt verstreuten Flüchtlinge auch absterben, wie eine gewisse Art Bäume, an welche Orte sie auch verpflanzt werden, gleichzeitig abstirbt, da sie alle aus einer Aussaat stammen.
    Ich kam gegen Morgen zurück in das Hotel de la Providence. Das Zimmer zur linken Wand war schon besetzt. Ich schlief nur wenig, weil diese neuangekommenen Leute mit ihren Koffern rumpelten. Am Morgen klopften sie bei mir an um etwas Spiritus für den Kocher. Sie waren junge Leute. Die Frau war sicher sehr zart gewesen. Jetzt war sie bis auf ihr stilles Gesicht breit und plump, weil sie ein Kind erwartete. Der Mann war ein kräftiger offener Bursche, durch List aus einem Lager entschlüpft, er war Offizier in Spanien gewesen, er rechnete mit der Auslieferung an die Deutschen, so hatten siedenn den Abschied beschlossen und seine sofortige Abfahrt. Er bat mich, der Frau beizustehen. Ich sah auf ihr einfaches stilles Gesicht, das nicht mehr schön war, das keine Verzweiflung zeigte und keine Furcht vor Allein-zurück-Bleiben und nicht einmal den Mut ihres Herzens, der keinen anderen Zeugen brauchte und hatte als mich, ihre einzige Stütze, da man mich zufällig in der letzten Stunde um etwas Spiritus anging.
VI
    Ich wartete auf Marie im Café Saint-Ferréol. Es war erst zehn Uhr morgens. Das Café war aber schon voll von Menschen, die auf die Präfektur wollten dem Platz gegenüber oder auf das amerikanische Konsulat. Ich kannte viele dieser vorbeiziehenden Menschen, doch gab es auch neue Gesichter. Denn unaufhörlich strömte es weiter in den einzigen Hafen des Landes, auf dem noch französische Flaggen wehten. Die Menschen, die diesen Erdteil verlassen wollten, hätten jede Woche eine gigantische Flotte bemannen können. Es fuhr aber jede Woche nicht einmal ein kleines, armseliges Schifflein. Von ihrem Polizisten geführt, ging das Mädchen aus dem Lager Bompard vorbei, das ich schon einmal bei dem Korsen getroffen hatte. Sie trug keine Strümpfe mehr, das Pelzchen, das sie zur Feier des Tages umgelegt hatte, sah räudig und zerfressen aus. Der Polizist griff ihr unter die Achseln, ihr Gang war schwankend geworden. Wahrscheinlich war eben ihre letzte

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