Transit
könnte, durch welche Art von Bestechung. Sie sagte: »Warum bis morgen?« – »Die Schiffsbuchung wird morgen abgeschlossen. Ich kann nur mit dem Visa de sortie endgültig buchen.« – »Sie haben noch keine Kaution gezahlt.« – »Ein Nachweis genügt vorerst, daß mir das Visa de sortie ausgestellt wird, wenn ich die Kaution einzahle.« Sie hatte längst aufgehört, sich über irgendeinen Schiffahrtsgesellschaftstrick zu wundern, sie fragte nur: »Sie sind darauf aus, gerade mit diesem Schiff zu fahren?« – »Ich bin darauf aus.« Sie stemmte den Kopf auf die dicken kleinen Fäuste. Sie grübelte über meinem Dossier. Sie glich einer Wahrsagerin, die über Karten brütet.
»Sie haben da einen Flüchtlingsschein. Sie sind aus dem Saargebiet abgewandert in ein französisches Dorf. Sie brauchten dann die Erlaubnis unserer Regierung, um unser Land zu verlassen. Nach Ihrem Geburtsort in diesen Papieren waren Sie Deutscher. Sie brauchten dann die Erlaubnis der deutschen Kommission. Einen Augenblick, bitte, ich kenne mich gut genug aus in jeder Art von Papieren, um zu wissen, ob sie stimmen. Ihre stimmen sicher nicht. Einen Augenblick. Beunruhigen Sie sich nicht! Siestimmen als solche. Als Ganzes stimmen sie nicht. Ich weiß nicht genau zu sagen, warum sie nicht stimmen, ich müßte sie dazu studieren, wozu ich jetzt keine Lust habe. Doch eine Frage müssen Sie mir beantworten. Von mir verlangen Sie ja, daß ich manches riskiere. So kann ich von Ihnen ein wenig Vertrauen verlangen. Riskieren Sie in einem Punkt die Wahrheit, der mich allein angeht? Was haben die Deutschen gegen Sie?«
Ich wunderte mich. Niemand in den letzten Jahren hatte sich mehr meine alte, längst überholte, längst übertroffene Geschichte anhören wollen. Nur diese Frau, die doch von Amts wegen täglich hundert solcher Geschichten hörte, horchte noch immer mit Aufmerksamkeit, mit einer Art von Ehrerbietung. »Ich bin einmal aus einem Lager geflohen«, sagte ich, »ich bin über den Rhein geschwommen.« Sie sah mich an, ihr echtes strenges Gesicht sah ihr aus den Augen. »Ich will sehen, was sich machen läßt.« Ich schämte mich sehr. Zum erstenmal half mir hier jemand, weil ich der war, der ich war, und doch traf diese Hilfe den Falschen. Ich ergriff ihre kleine dicke Hand. Ich sagte: »Ich habe noch eine Bitte. Wenn jemand in Ihrer Abteilung nach mir fragen sollte, heute oder morgen, ob ich abgefahren bin, ob ich abfahren werde, geben Sie keine Auskunft! Lassen Sie sich nicht rühren! Verschweigen Sie, daß ich heute hier war! Sie werden begreifen, daß es mir darum zu tun ist, unerkannt abzufahren.«
VIII
Mich aber packte zum erstenmal und deshalb mit Wucht die Furcht, zurückzubleiben. Schon waren viele davon, an die sich mein Herz gehängt hatte. Mein Vorsprung vor ihnen war mir einstmals gewaltig erschienen, und doch war er trügerisch, sie hatten mich plötzlich eingeholt. Ich sah Mariens Gesicht, als schwebe sie fort, immer kleiner,immer blasser, einer Schneeflocke gleich. Wie, wenn ich wirklich zu wählen hätte zwischen dem letzten Schiff und unverrückbarem Hierbleiben? Da sah ich nicht mehr um mich herum die Häuser von Bleibenden vollgepfropft, mit ihrem Rauch aus zahllosen Schornsteinen, die Arbeiter in den Fabriken und Mühlen, die Fischer, Barbiere und Pizzabäcker, ich sah mich allein, als sei ich auf einer Insel im Ozean, ja auf einem Sternchen im Weltall. Ich war allein mit der schwarzen vierarmigen Riesenkrabbe, dem Hakenkreuz.
Ich stürzte, als sei dieser Ort ein geweihter Tempel, der einem von Furien geschüttelten Menschen Zuflucht gewährte, die unermeßliche Öde in sich, auf das amerikanische Reisebüro. Der Korse wandte sich sofort an mich, obwohl sich genug gehetztes Volk hinter der Schranke quälte. »Er ist im arabischen Café oder am Quai du Port.« – »Ich brauche den Portugiesen nicht mehr«, rief ich, »ich brauche Sie. Ich will auch fahren.« Er sah mich enttäuscht und belustigt an und erwiderte: »Dann müssen Sie in die Reihe treten.« Ich stellte mich ein und hörte stundenlang auf das Flehen, auf Drohen, Bitten, Bestechungen, auf das Knacken ineinandergeschlungener Hände. Doch heute kam alles aus meinem Herzen. Ich trat endlich vor die Schranke, der Korse langte gähnend mein Dossier, er bohrte mit dem Bleistift im Ohr. Er sagte: »Sie haben noch schrecklich viel Zeit. In drei, vier Monaten wird ein Platz frei auf der American Export in Lissabon.« Ich rief: »Ich will diese Woche fahren, mit
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