Transit
sagte, ich hätte gar nicht die Absicht, irgendwohin zu fahren. Vor den Deutschen geflohen, von einer Stadt zur anderen getrieben, sei ich eben in dieser gelandet. Ein Visum hätte ich nicht, eine Schiffskarte hätte ich nicht, übers Meer laufen könne ich nicht. Sie schien eine ruhige, fast träge Frau, jetzt war sie aber bestürzt. Sie rief: »Der Herr will doch nicht etwa bleiben?« Ich sagte: »Warum denn nicht? Sie bleiben ja auch.« Sie lachte über diesen Witz.
Sie händigte mir den Schlüssel ein mit der Blechnummer. Ich konnte kaum zu dem Zimmer vordringen. Der Gang war blockiert mit Dutzenden von Gepäckstücken. Sie gehörten einem Trupp Spanier, Männer und Frauen, die alle in dieser Nacht abreisen wollten, über Casablanca nach Kuba, von dort nach Mexiko. Ich dachte befriedigt: So hat er also doch recht gehabt, der Knabe in der Rue Longuin in Paris vor dem Gitter des mexikanischer Konsulats. Es gehen doch Schiffe. Sie liegen im Hafen bereit.
Ich hatte selbst beim Einschlafen die Empfindung, auf einem Schiff zu sein, nicht, weil ich soviel von Schiffen gehört hatte oder eins benutzen wollte, sondern weil ichmich schwindlig und elend fühlte in einem Gewoge von Eindrücken und Empfindungen, die ich keine Kraft mehr hatte, mir zu erklären. Auch drang von allen Seiten ein Lärm auf mich ein, als schliefe ich auf einer glitschigen Planke inmitten einer betrunkenen Mannschaft. Ich hörte Gepäckstücke rollen und krachen, als lägen sie schlecht verwahrt im Lagerraum eines vom Meer geschüttelten Schiffes. Ich hörte französische Flüche und spanische Abschiedsbeteuerungen, und endlich hörte ich noch aus weiter Ferne, doch durchdringender als alles, ein kleines einfaches Lied, das ich zum letztenmal in meiner Heimat gehört hatte, als noch niemand von uns wußte, wer Hitler war, nicht einmal er selbst. Ich sagte mir, daß ich sicher nur träumte. Ich schlief dann auch wirklich ein.
Ich träumte, ich hätte den Handkoffer stehenlassen. Ich suchte ihn an den unsinnigsten Orten, in meiner Knabenschule daheim, bei den Binnets in Marseille, bei Yvonne auf dem Bauernhof, auf den Docks in der Normandie. Da stand der Handkoffer auf einem Laufsteg, die Flieger stießen en pique herunter, ich rannte noch einmal zurück in Todesangst.
Drittes Kapitel
I
Ich fuhr hoch. Die Nacht war noch nicht vorbei. Das Hotel war still, die Spanier waren vielleicht schon auf dem Meer. Ich schrieb, weil ich nicht mehr einschlafen konnte, einen Brief an Yvonne. Ich brauchte, um nach Marseille zu fahren, einen Sauf-conduit. Ich sei zwar inzwischen gut angekommen, ich müsse jetzt aber noch einmal ankommen, mit Papieren und auf Papieren, ordnungsgemäß. Ich ging gleich weg, um den Brief einzuwerfen. Ein häßliches, strubbliges Mädchen, das in dem Fenster der Wirtin die Nachtwache machte, hielt mich an. Ob ich bezahlt hätte? – Ja. – Ob ich abführe? – Mein Gott. Nein!
Es war noch finster und kalt in den hohen Gassen, doch fielen die Sterne schon ab. Ich wartete ungeduldig auf den Tag, als könnte er mir nicht nur diese Stadt erhellen, sondern alles, was mir unbekannt geblieben war. Doch meinethalben erwachte nichts früher, die Cafés waren noch geschlossen, ich mußte noch einmal zurück.
Mein Gang war wieder blockiert von denselben Gepäckstücken derselben Spanier, die in der Nacht hatten abfahren wollen. Sie waren aus dem Hafen zurückgekehrt. Nur die Männer fehlten. Die Frauen und Kinder saßen klagend und fluchend auf den Koffern. Sie waren inzwischen mit ihrem Zeug schon im Hangar gewesen, abfahrtbereit. Man hatte das Schiff vor dem Tor des Hangars liegen sehen. Da war die französische Polizei gekommen. Sie hatte alle waffenfähigen Männer verhaftet auf Grund eines Abkommens mit der Franco-Regierung. Die spanischen Frauen weinten nicht, sie fluchten demZustand der Welt, bald leise, die Köpfe der Kinder schaukelnd, bald laut mit ausgebreiteten Armen. Auf einmal beschlossen sie, zu dem mexikanischen Konsulat zu ziehen, unter dessen Schutz sie stünden, da sie mexikanische Visen hätten. Dort solle man ihnen Recht verschaffen.
Sie zogen ab, voran eine junge, helle, jetzt düster blickende Frau mit einem kleinen, kirschenäugigen Mädchen in einer Reisekapuze. Ich schloß mich an. Ich hatte das Bündel Papiere des Toten eingesteckt. Mich hatte das Ziel dieser Frauen, ihr Konsulat, an das Bündel erinnert. Ich hatte ja Zeit! Ich konnte ebensogut gleich mitgehen. Es war inzwischen Morgen geworden, ein beinahe zu
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