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Transit

Transit

Titel: Transit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Seghers
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Geräusch im Zimmer. Ich fand den Knaben über das Bett geworfen, von Weinen geschüttelt. Ich beugte mich über ihn, er stieß mit den Füßen nach mir. Ich wollte ihn trösten, er rief: »Geht alle zum Teufel!« Ich stand ratlos dabei, als er weinte, wie ich noch nie jemanden weinen gesehen hatte. Doch dachte ich auch mit einer gewissen Erleichterung, das wenigstens sei unzweifelbar Wirklichkeit, das uneinhaltbare Weinen des Knaben, der sich verraten und verlassen vorkam. Ich nahm das Geschenk und packte es aus. Es war ein Buch, ich schob es ihm hin. Er sprang auf, warf das Buch auf den Boden. Er trampelte auf dem Buch. Ich wußte nicht, wie ich ihn beruhigen könnte.
    Georg Binnet trat ein, er bückte sich nach dem Buch, schlug es auf, setzte sich, während er blätterte. Es schien seine Aufmerksamkeit mehr in Anspruch zu nehmen als der Knabe. Der trat mit seinem vom Weinen verschwollenen Gesicht hinter Georg, um selbst in das Buch zu sehen. Er riß es plötzlich aus Georgs Händen, warf sich mit dem Buch auf das Bett und schien fast sofort, das Buch an sich gedrückt, einzuschlafen. »Was hat es denn gegeben?« fragte Georg. – »Der Arzt war zum letztenmal hier. Er fährt dieser Tage ab.« Georg erwiderte darauf nichts.Er zündete sich eine Zigarette an. Ich war auch auf ihn eifersüchtig: auf seine Unverstricktheit, auf sein Daheimsein.
II
    Zunächst verlief der Abschied besser, als ich gefürchtet hatte. Wir hatten uns wahrscheinlich alle drei ein wenig gefürchtet. Ich war der erste, der sich einfand. Ich hatte bereits eine halbe Flasche Rosé getrunken, als beide ankamen. Ich sah dieses Paar vielleicht zum letztenmal ruhig an diesem Abend, dem letzten, den es mutmaßlich zusammen verbrachte. Als hätte mir der Abschied die Augen geöffnet, verstand ich sogar, warum Marie diesem Menschen gefolgt war, mindestens bis hierher. Er war gewiß stets derselbe gewesen, immer ruhig, auch als er sein kleines, schäbiges Auto quer durch den Krieg fuhr, vor den Deutschen her. Ich wunderte mich jetzt sogar selbst, warum sich Marie nicht ganz seiner Ruhe ergeben hatte nach soviel Umhergeziehe, soviel Wirbel. Ich dachte an diesem Abend auch, er habe auf seine Weise die Abfahrt erledigt: Er hatte das Visum verwirklicht, die nötigen Transits beschafft und auch mit allen Gefühlen gebrochen, die seine Abfahrt behindert hatten. Ich sah ihn jetzt sogar mit Hochachtung an: Ja, er war fähig abzufahren.
    Marie aß einen Bissen und trank ein wenig. Auch ihr war gar nichts anzumerken. Ich hätte nicht einmal entscheiden können, ob ihr die Abreise Schmerz bereitete oder Erleichterung. Der Arzt ermahnte mich noch einmal, ja Mariens Abfahrt zu betreiben, ihr in allem behilflich zu sein. Er schien eines Wiedersehens sicher. Meine eigenen Gefühle in dieser Sache erschienen ihm offenbar unerheblich.
    Wir brachen früh auf. Wir überquerten den Cours Belsunce, auf dem ein Jahrmarkt aufgebaut war. Die vielen farbigen Lampen kamen noch nicht zur Geltung in einerspäten Dämmerung. Der Arzt hatte mich gebeten, auf sein Zimmer mitzukommen, um einen Koffer zuschnüren zu helfen, der schwer schließbar war. Ich war nie mehr in dem Hotel Aumage gewesen, seit ich, von Binnets geschickt, einen Arzt für den Jungen gesucht hatte. Ich hatte in jener Nacht kaum auf das Haus geachtet. Von außen stand seine Fassade schmal und schmutzig in der häßlichen Rue du Relais. Doch war das Hotel überraschend tief mit einer Unmenge von Zimmern. Sie lagen an schmalen Gängen, die auf das hohe Treppenhaus mündeten. Im Erdgeschoß auf dem Seitenflur stand ein kleiner Ofen mit einem bis in den zweiten Stock gewundenen Rohr, das etwas Wärme abgab. Verschiedene Gäste des Hotels Aumage saßen um den Ofen herum und trockneten Wäsche, ein großer Kübel stand auf der Ofenkappe. Man hatte auch kleine Gefäße mit Wasser in die Windungen des Rohres gestellt. Die Leute sahen bei unserem Eintritt neugierig auf. Sie waren lauter durchfahrendes Volk – wer hätte auch einen solchen Ort auf die Dauer gewählt? Es war ein Haus, von dem man sich sagt: Man hält es aus, weil man abfährt. Mir ging auch noch durch den Kopf, daß der Arzt Marie in diesem Haus nicht übel versteckt hatte. Die Rue du Relais war eine kurze Gasse, die einzige hinter dem Cours Belsunce, die nicht bis zum Boulevard d’Athènes durchschneidet, sondern bei der nächsten Querstraße abbricht. Wir stiegen hoch. Der Arzt schloß die Tür auf, durch die sich in jener Nacht Mariens Hand gestreckt

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