Transsibirien Express
der einzige Beweis, daß sie innerlich nicht ganz so ruhig war wie nach außen hin …
Karsanow steckte das schmale lederne Etui mit seinem Ausweis wieder in die Tasche und setzte sich auf seinen Fensterplatz.
Sein zerknittertes Alltagsgesicht, dieses etwas onkelhafte, bieder-bürgerliche Aussehen hatte sich gründlich verändert. Wer ihm jetzt in die Augen blickte, empfing Kälte – Kälte, die keinen persönlichen Kontakt mehr zuließ.
»Hier, in diesem Abteil, hat sich etwas Ungeheuerliches zugetragen!« sagte Karsanow jetzt hart. »Die Sowjetunion ist beleidigt, unsere glorreiche Armee beschimpft worden, man hat uns des Mordes an Tausenden von deutschen Kriegsgefangenen bezichtigt, man hat uns jegliche Humanität abgesprochen! Ist es so, Werner Antonowitsch?«
»Nein!« antwortete Forster ebenso laut und hart.
»Nein? Ich habe Zeugen!«
»Wir waren vollauf mit dem Ausziehen beschäftigt, Genosse«, erwiderte Klaschka mit einem breiten Lächeln. »Ausziehen ist eine Kunst, vor allem bei uns! Der Kunde bezahlt es mit …«
»Es gibt Mittel, euer Gedächtnis aufzufrischen!« Karsanow räkelte sich fast wohlig in den dicken roten Polstern.
Draußen hatte es zu schneien begonnen, dicke Flocken, so eng beieinander, daß sie wie ein gehäkelter weißer Vorhang wirkten.
Der unendliche Wald dahinter, über Hügel kletternd und in Senken verschwindend , verschwamm und löste sich auf. Es gab keine Formen mehr, nur noch den wehenden Schneevorhang.
Der Transsib fuhr jetzt etwas langsamer, auf den Schienen bildeten sich Schneeberge, die von den an der Lokomotive herausragenden stählernen Schneeschiebern zur Seite gedrückt werden mußten.
Es schien zu stimmen, was man sich erzählte: Daß nämlich sogar der Transsibirien-Expreß trotz seiner gewaltigen elektrischen oder dieselgetriebenen Loks ab und zu steckenblieb und sich dann wie ein Rammbock durch die erstarrten Schneemassen hindurchstemmen mußte.
»Jetzt drohen Sie auch noch«, sagte Forster mit belegter Stimme. »Ich stelle hier in aller Deutlichkeit fest: Ich bin Gast Ihres Landes! Ich bin von Ihrer Regierung eingeladen worden; ich fahre mit diesem Expreß, weil ich im Besitz einer Sondererlaubnis bin. Ich werde von nun an überall, wo sich die Möglichkeit bietet, eine Beschwerde nach Moskau schicken und in Deutschland im Rahmen einer Pressekonferenz über meine Behandlung in der Sowjetunion berichten.«
»Das habe ich erwartet. Genau das! Das ist der Stil der Revanchisten! Glauben Sie, das schüchtert mich ein, Werner Antonowitsch?« Karsanow streckte die Hand aus. »Geben Sie mir noch eine Zigarette von Ihrer Marke!«
»Aus dem dekadenten Westen? Eine amerikanische?«
Forster warf Karsanow die ganze Packung in den Schoß. Der Russe zog hastig eine Zigarette heraus und steckte sie mit einem Streichholz an.
Neben der Tür zog Milda ihren Stepprock wieder an. Sie zitterte so heftig, daß sie die Knöpfe nicht schließen konnte. Klaschka half ihr und streifte dann selbst ihre Bluse über.
»Erzähl ihm, wer du bist!« sagte sie dabei. »Hab keine Angst, Mildenka. Er frißt dich nicht. Er ist bloß neugierig, wieso ein so junges hübsches Mädchen wie du zur Dirne wird. Verklemmte Vatergefühle, weiter nichts! Das Interesse eines ältlichen Onkels, der gerne möchte, aber nicht kann. Erzähl ihm dein Leben, dann ist er zufrieden.«
»Für Ihr Mundwerk werden Sie noch zahlen!« knurrte Karsanow giftig, genoß aber den Zigarettenrauch sichtlich. »Sie wissen, daß öffentliche Prostitution verboten ist.«
»Weise sie mir nach, Väterchen«, antwortete Klaschka gleichgültig. »Ich reise wie alle hier im Zug. Ich habe eine Fahrkarte. Kann ich mich wehren, wenn die Männer wie Böcke hinter der Ziege her sind? Außerdem habe ich es gern … Will das KGB nun auch die Liebe verbieten?«
»Gegen Geld – ja!«
»Ich nehme kein Geld.« Klaschka grinste breit. »Es wird unmöglich sein, im ganzen Zug auch nur einen Mann zu finden, der gesteht, mich bezahlt zu haben. Wer wird so etwas sagen? Etwa der Genosse Parteisekretär im Wagen drei? Oder der Vorsitzende der Sowchose ›Gorkij‹ aus Tjumen? Oder der Hauptmann der Roten Armee im Wagen sieben? Oder …«
»Der auch?« fragte Karsanow erschüttert. »Zum Teufel, Sie verseucht den ganzen Zug!« Er blickte aus dem Fenster und überlegte, was zu tun war.
Eines war sicher: Niemand im Transsib würde ihm helfen. Er war allein, ein Einzelkämpfer sozusagen, nicht einmal das Zugpersonal würde ihm Sympathie
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