Transsibirien Express
Zug, fielen in den Schnee, purzelten übereinander, schlugen um sich, brüllten und schimpften, fluchten und traten die Nebenmänner.
Es war ein Chaos.
Die ersten Verletzten meldeten sich mit blutenden Nasen und aufgeschürfter Haut. Da Frost in einer Wunde immer zu großen Komplikationen führt, kletterten sie sofort wieder zurück in den Zug und flüchteten in die warmen Abteile.
»Ein Heer von Läusen ist disziplinierter!« schrie Karsanow. Er sah Werner Forster grinsend neben der Lok stehen, eine Schaufel in der Hand.
Daneben wartete der Tenor, um den Hals einen dicken Wollschal geschlungen.
Der General diskutierte mit Jurij, dem Oberlokführer. Einen ähnlichen Fall hatte man bei der Belagerung von Leningrad gehabt. Da hatte man die Gleise mit Flammenwerfern freigemacht. Warum nahm man keine Flammenwerfer mit, wenn man durch Sibirien fuhr? Der General war empört.
Karsanow stampfte durch den fast hüfthohen Schnee hinüber zu Forster.
Es sah grotesk aus, wie er bei jedem Schritt hochhüpfte und dann wieder in den weißen Bergen versank, – aber er schaffte es, eine Spur zu treten.
Der Tenor schlug gerade vor, zur Hebung der Arbeitsmoral gemeinsam den Chor der Gefangenen aus Verdis ›Nabucco‹ zu singen: »Teure Heimat, wann seh'n wir dich wieder …«
»Grinsen Sie nicht so dämlich!« fuhr Karsanow den Deutschen unhöflich an. »Jeder Mensch, auch ein Russe, muß sich an Ausnahmezustände erst gewöhnen!«
»Natürlich.« Forster stützte sich auf seinen Schaufelstiel. »Ich habe vorhin vergessen, Sie etwas zu fragen. Als ich Sie verband, kam Mulanow und rief Sie ans Telefon. Er hatte ein Gespräch für Oberst Jarsanow …«
»Na und?« fragte Karsanow verschlossen zurück.
»Wie soll ich Sie nun anreden: Jarsanow oder Karsanow?«
»Sagen Sie weiter Pal Viktorowitsch, das stimmt immer!« Karsanow wandte sich brüsk ab. »Alle Mann zur Lok!« brüllte er über den Menschenhaufen hinweg.
Der Wind fegte seine Worte weg.
Wie Peitschenhiebe schlug der Schnee auf sie herunter. Die Menschen waren im Nu mit einer weißen Schicht überkrustet und sahen aus wie Geisterwesen.
In der Tür zum Packwagen eins standen Vitali und Wladlen und warfen Schaufeln, Spaten und Latten hinaus. Es müssen nicht immer Flammenwerfer sein …
Sie schaufelten vier Stunden, in sechs Gruppen, denn anders war die mörderische Arbeit nicht auszuhalten.
Nach einer halben Stunde war man am ganzen Körper wie vereist, die Gesichter hatten sich mit einer Schicht aus gefrorenen Schweißtropfen überzogen, die Kleidung war erstarrt, und man hatte Mühe, zurück in den warmen Zug zu klettern.
Im Speisewagen wurde ununterbrochen Tee gekocht. Fedja, der Kellner, und seine beiden Gehilfen verteilten das dampfende Getränk in Pappbechern oder Kunststofftassen. Aber dabei blieb es nicht. Aus den Abteilen wanderten ganze Batterien von Wodkaflaschen zu den Schaufelkolonnen, und der mit Wodka gewürzte Tee trug dazu bei, daß selbst die weniger kräftigen Männer durchhielten.
»Glauben Sie bloß nicht, Rußland sei ein Volk von Säufern!« schnaufte Karsanow neben Werner Forster. »Aber wer durch Sibirien fährt, hat immer einen kleinen Vorrat bei sich, gewissermaßen als Medizin!«
Trotz vieler Rückschläge – beispielsweise mußte Karsanow nach zwei Stunden von neuem mit seinem KGB-Ausweis durch den Zug laufen und alle hinausjagen, die sich inzwischen heimlich verdrückt hatten – ging die Arbeit gut voran.
Unmögliches schien wahr zu werden: man schaufelte schneller, als der Wind neuen Schnee herantrieb. Von einem Entlastungs- oder Materialzug aber war nichts zu sehen und zu hören.
»Ich werde Irkutsk ins Gesicht spucken!« schrie Karsanow nach drei Stunden unbeherrscht. »Versprechungen, nur Versprechungen! Und was tun sie wirklich? Halten ihren eigenen Hintern an den warmen Ofen! Ich werde in Moskau eine Beschwerde loslassen, daß sich alle Verantwortlichen vor Angst in die Socken pinkeln!«
Bei der vierten Kolonne arbeiteten auch Klaschka und Milda Tichonowna. Sie schaufelten wie die Männer, dick vermummt, um die Beine zwei zerschnittene Decken gewickelt und mit Bindfäden verschnürt.
Ein paarmal blickte Milda zu Werner Forster hinüber und lächelte ihm zu. Dann stieß sie weiter die Schaufel in den Schneeberg und warf die gefrorenen Klumpen zur Seite.
»Ich nehme an, Sie revidieren Ihre Meinung über Milda, mein lieber Pal Viktorowitsch«, sagte Forster, als sie eine Pause machten und die nächste Kolonne
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