Transsibirien Express
»Genossen, ich habe ein Allheilmittel in der Tasche, das jedes Gebrechen sofort heilt! Achtung!«
Er griff in den Rock, holte seinen KGB-Ausweis hervor und hielt ihn hoch.
Man redet so viel von Wunderheilungen, von den Wundern von Lourdes oder Fatima … aber all das ist eine lahme Angelegenheit gegen die Wirkung eines solchen Ausweises. Sein Anblick schenkt jedem Russen ungeahnte Kraftreserven.
So sprangen denn auch alle Männer von den Sitzen, ganz gleich, ob sie auch vorhin nahe dem Sterben waren, und drängten durch den Gang nach vorn zum Gepäckraum.
Selbst das Schluchzen der Frauen hörte auf. Sie starrten mit großen Augen auf Karsanow und bekreuzigten sich schnell, als er sich abwandte und zum nächsten Abteil ging.
Von da an hielt sich Karsanow nicht mehr mit langen Vorreden auf. Er zeigte den KGB-Ausweis, schnauzte: »Nach vorn zum Gepäckwagen!« und es gab niemanden, der ihm widersprach.
Nur ein Bauer im Wagen drei, Abteil fünf, blieb sitzen und lächelte Karsanow an.
»Sind Sie taub?« brüllte Pal Viktorowitsch. »Sind Sie blind? Worauf warten Sie noch?«
»Auf meine Beine, Genosse«, sagte der Bauer ruhig. Er beugte sich vor, hob beide Hosenbeine hoch und nickte. Unter dem Stoff kamen zwei Holzbeine zum Vorschein, an die man, fast naturgetreu, zwei Füße in derben Schuhen genagelt hatte. »Die richtigen liegen bei Wjasma, Genosse. Auf die künstlichen Beine warte ich seit dreißig Jahren.«
Karsanow winkte ab und verließ schnell das Abteil. »Der Mann ist befreit«, sagte er zu Mulanow. »Kümmern Sie sich nachher um ihn. Name, Adresse – und welches Krankenhaus zuständig ist. Ich will wissen, warum er noch keine Prothesen bekommen hat. Begreifen Sie das, Boris Fedorowitsch?«
»Nein«, antwortete Mulanow artig. »Unterschlagen kann man sie doch nicht haben. Wer hängt sich schon Prothesen an die Wand?«
»Sie sind ein ausgesprochen dämlicher Mensch!« fauchte Karsanow und ging weiter.
Der Schaffner zuckte mit den Schultern und schwieg.
Warte es ab, dachte er grimmig. Noch ist dieser Tag nicht zu Ende! Noch haben wir nicht angefangen mit dem Schneeschaufeln! Es soll vorkommen, daß Menschen im Schnee erfrieren …
Nach einer halben Stunde waren die beiden Gepäckwagen und der Postwagen voller Männer. Wie die Sardinen standen sie, eng zusammengepreßt, und warteten auf weitere Anweisungen.
Der Leiter des Postwagens, ein kleiner dicker Beamter, der Lumeneff hieß, lief erregt im Gang des Waggons eins hin und her und wartete auf Karsanows Rückkehr.
»Wer garantiert mir, daß keiner ein Paket klaut?« schrie Lumeneff schon von weitem, als er Karsanow erblickte. »Und auf den Briefsäcken sitzen sie, zerquetschen die Briefe, stinken sie voll, Genosse Oberst! Ich lehne jede Verantwortung für diese Postsendungen ab! Ein Postwagen darf nur von den dazu autorisierten Beamten betreten werden! Aber was geschieht hier? He, was passiert hier? Auf fremder Leute Briefgeheimnissen sitzen sie mit ihren dreckigen Hintern!«
Karsanow brachte ihn mit einer Handbewegung zum Schweigen. Bei seinem Erscheinen hatte sich plötzlich Stille über alle Männer gelegt.
Hunderte von Augen starrten ihn erwartungsvoll, aber auch mit hintergründiger Giftigkeit an. Jedoch das war es nicht, was Pal Viktorowitsch zusammenzucken ließ.
Aus dem Packwagen Nummer eins, ganz vorn, drang durch die offenen Türen und über alle Köpfe hinweg Gesang.
Der Tenor! Er sang wieder. Diesmal ›Leise rieselt der Schnee …‹! Dazwischen war das Gebrüll des Generals zu hören, der nach einer Stange oder sonst einem Instrument rief, um den Tenor zu erschlagen …
»Genossen!« sagte Karsanow fast feierlich. »Wir müssen den Zug freibekommen! Wie, das ist gleichgültig. Aber er muß wieder fahren! Wir sind Russen, das ist ein russischer Zug, er steht auf russischer Erde, und russischer Schnee hält ihn auf. Das genügt, um als Russe mit Herz und Seele dabeizusein! Ich erwarte, daß jeder bei jeder Schaufel Schnee, die er wegschafft, an das Vaterland denkt! Aussteigen!«
Das war zwar leicht befohlen, aber schwer getan. Denn kaum hatte man die Tür geöffnet, fuhr der Sturm in den Waggon und trieb eine Wolke Schnee über alle hinweg.
Die ersten Männer sprangen heraus und versanken sofort in den Verwehungen.
Die nächsten wollten zögern, aber man drängte in den hinteren Reihen nach; Männer stürzten in den Schnee und überschlugen sich. Einhundertneunundzwanzig Männer verließen auf diese und ähnliche Weise den
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