Transsibirien Express
niemand Karsanow daran, den armseligen kleinen Panzer aus Ausreden und Lügen, den Milda ungeschickt um sich errichtet hatte, zu zerschlagen.
Ich muß handeln, dachte Forster. Ich muß sofort etwas tun …
Aber was? Gott im Himmel – was?
Im richtigen Augenblick kam der Kellner Fedja.
Er brachte Karsanows Milch, eine Halblitertüte, in der es noch knirschte, weil die Milch noch nicht ganz aufgetaut war.
Karsanow beschwerte sich nicht, ihm war es recht so. Im Abteil, überhaupt im ganzen Zug war es sehr warm, man konnte also eine Erfrischung gut gebrauchen.
»Es sind so kleine Dinge«, sagte er gnädig und wandte sich dem Deutschen zu, »wo die Perfektion einen Knacks bekommt. Doch sicherlich auch bei Ihnen, Werner Antonowitsch! Mal funktioniert die Heizung, als wären wir Brotlaibe, die gebacken werden sollen, – mal fällt sie aus, dann werden wir konserviert. Die Tücken der Technik!«
Karsanow sah zu, wie Fedja den herrlichen, goldfarbenen grusinischen Kognak auf den Klapptisch stellte.
Kopfschüttelnd sagte er zu Forster: »Wie Sie jetzt so etwas trinken können! Erfrischt das denn?«
»Mich ja!«
Werner Forster hob das Glas und schwenkte den Kognak. Der würzige Duft verbreitete sich in dem überheizten Abteil.
Der Kellner stand in der Tür und schwankte leicht. Seine Augen waren vor Übermüdung gerötet wie bei einem weißen Kaninchen. Auch seine Hautfarbe war fahlweiß.
»Sie sollten sich hinlegen, Fedja«, sagte Karsanow. »Wenn Sie so weitermachen, servieren Sie den Gästen das Spülwasser und schütten die Suppe weg …«
Fedja nickte stumm, wollte anscheinend etwas sagen, kaute an den Worten, und verzichtete dann doch darauf. Wie ein langer dürrer Schatten verschwand er in dem Gang.
Draußen dämmerte der Morgen. Der Transsib fuhr jetzt am Baikalsee vorbei, der – so weit Forster blicken konnte – zugefroren war. Die nächste Station würde Ulan-Ude sein, die Hauptstadt der Burjatischen Volksrepublik.
Die Grenze zur Mongolei war nahe, – man sah es an den Jurten der Burjaten und den Auls, den Dörfern aus Fellhütten, an denen der Zug vorbeidonnerte.
Davon habe ich als Kind immer geträumt, dachte Forster und trank einen Schluck von dem Kognak. Sibirien, die Mongolei, China! Das nie zu enträtselnde Geheimnis Asiens.
Und was ist aus meinen Träumen geworden?
Ich sitze mit einem Oberst des Geheimdienstes hier in einem überhitzten Zugabteil und kämpfe mit ihm um ein russisches Mädchen, das ich nur ein paar Stunden kenne und von dem ich mich schon nicht mehr trennen kann.
Gibt es etwas Verrückteres als das Leben?
»Einen Vorschlag, Pal Viktorowitsch«, sagte Forster und lehnte sich zurück.
Karsanow nickte und saugte mit einem Strohhalm die eiskalte Milch mit den gefrorenen Klumpen.
»Lassen Sie uns erst frühstücken!«
»Ich verstehe nicht, Werner Antonowitsch.«
»Verhören Sie Milda erst nach dem Kaffee.«
»Da haben Sie sich doch einen Trick ausgedacht?« Karsanow stellte seine Milchtüte ab. »Ich weiß gar nicht, warum ich bei Ihnen dauernd Ausnahmen machen soll! Ich spüre, daß hier etwas faul ist … Wissen Sie, wie ich da in Moskau handeln würde?«
»Dazu braucht man keine große Phantasie.«
»Sehen Sie! Und wie benehme ich mich Ihnen gegenüber? Wie ein zahnloses Urgroßväterchen! Warum eigentlich?«
»Vielleicht sind wir uns tatsächlich sympathisch und wehren uns nur dagegen. Als mein Vater aus sowjetischer Gefangenschaft zurückkam …«
»Das haben Sie nun lang und breit ausgewalzt, Werner Antonowitsch! Ich weiß, was Ihr Vater gesagt hat! Diese Generation, die nichts dazugelernt hat! Der Feind steht immer noch im Osten! Es ist zum Kotzen mit dieser Generation!«
»Mein Vater hat etwas anderes gesagt. Ihn hat Rußland bis zu seinem Ende nicht losgelassen –, und bei mir ist es nicht anders!«
»Werner Antonowitsch, bitte nicht diese sentimentale Platte! Da höre ich nicht hin. Milda ist ein politischer Fall, das sage ich Ihnen im voraus, bevor ich sie noch ins Verhör genommen habe.«
Er zuckte zusammen, und auch Forster war einen Augenblick lang erschrocken. Im Gang jubelte eine Stimme auf – der Tenor!
Er begrüßte den neuen Tag. ›Morgendlich leuchtend …‹, aus den ›Meistersingern‹.
Aus dem Nebenabteil stürzte, wie von einem Wolf verfolgt, der General. Über seine gestreifte Schlafanzughose trug er den Uniformrock mit der fünfstöckigen Ordensspange. »Warum ermordet man immer die Falschen?« brüllte er in Wagners ›Preislied‹
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