Transzendenz
nächsten. Sie hatte riesige Augen, Augen wie Untertassen.
Drea sagte trocken: »Ich nehme an, das war ein Lauscher. Eine weitere spezialisierte Drohnenart?«
»Vermutlich«, sagte Alia. »Aber worauf horchen sie?«
»Auf die Echos der Zeit«, sagte Berra.
Die Lauscher waren hier, um der Transzendenz bei ihrem Streben nach Erlösung zu helfen.
Die Transzendenz betrachtete sich nicht als Zweck, für den die Trostlosigkeit früherer Leben nur ein notwendiges Mittel gewesen war. Sie glaubte, die Vergangenheit irgendwie wieder gutmachen zu müssen, wenn sie gereinigt werden wollte – wenn sie perfekt sein wollte. Doch kaum war das Ziel der Erlösung formuliert, hatte sich die im Entstehen begriffene Transzendenz tief schürfenden Fragen stellen müssen. Wie sollte die Vergangenheit wieder gutgemacht werden?
Erlösungsschulen wurden gegründet, um diese Frage zu beantworten. Zuallermindest, so erkannte man bald, musste die Transzendenz – und damit die Menschheit, aus der sie entstand – sich die Vergangenheit vergegenwärtigen, sodass die Vergangenheit ins Bewusstsein der Transzendenz eingehen konnte, als Teil ihres ewigen Ganzen.
Anfangs versuchte man es mit der Gründung riesiger Museen. Viele von ihnen waren virtueller Natur, Erinnerungsstätten für mehrere Welten, ohne jedwede physische Präsenz. Basierend auf den besten Rekonstruktionen der Historiker und Archäologen, zeigten diese Museen gewaltige Dioramen, in denen große Ereignisse der Vergangenheit vor die Augen der Gegenwart gebracht wurden.
Aber das genügte nicht.
Erstens war die Gegenwart ein unvollkommenes Fenster zur Vergangenheit. Menschliche Aufzeichnungen waren immer unvollständig und oftmals voller Lügen. Natürlich gab es physische Spuren, die man zurückverfolgen konnte, und Legionen neuer Archäologen überfielen sämtliche Welten der Menschheit, besonders die Erde. Einige Elemente der Vergangenheit waren im genetischen Erbe der Menschheit selbst aufgezeichnet und noch immer im menschlichen Körper vorhanden, obwohl die Menschheit über die ganze Galaxis verstreut worden war und sich dabei verändert und verwandelt hatte. Aber diverse katastrophale Ereignisse natürlicher und anderer Art hatten riesige Leerstellen in all solchen Aufzeichnungen hinterlassen.
Und ganz gleich, wie vollständig die Aufzeichnungen sein mochten, es stellte sich immer noch die Frage der Interpretation – der Bedeutung der Ereignisse, der Motivationen und Intentionen der prägenden Figuren der jeweiligen Zeit, von denen viele aufgrund ihrer zeitlichen Distanz zu den Transzendenten praktisch eine andere Spezies waren. Eine neue Generation von Historikern wuchs heran, die über die großen und kleinen Bedeutungsunterschiede diskutierten.
Das war alles sehr unbefriedigend. Deshalb gingen, noch während die ersten Dioramen eingerichtet wurden, die Bemühungen weiter, die Erlösung zu vertiefen und zu erweitern. Und schließlich entdeckte man eine neue Methode, die Vergangenheit ans Licht zu befördern.
Auf der Nord glaubten nur ganz kleine Kinder, das Universum sei unendlich. Nur weil es so aussah, musste es nicht so sein, ebenso wenig wie die scheinbare Flachheit eines Planeten bedeutete, dass er wirklich eine unendlich große Scheibe sei. Das Universum war endlich: geschlossen, in sich selbst gekrümmt. Für Alia war die Endlichkeit des Universums so offensichtlich und intuitiv erfassbar, wie es für ein auf der Erde geborenes Kind offensichtlich war, dass die Sonne ein Stern war.
Und dies erwies sich als nützlich. Bei der Suche nach Wegen und Mitteln zur Wiederentdeckung ihrer Vergangenheit war die Transzendenz auf die Geschlossenheit des Universums gestoßen. Denn Zeit und Raum waren keine getrennten Entitäten, sondern verschmolzen zu einer Einheit, der Raumzeit. Deshalb musste die Zeit in einem endlichen Universum ebenso vollständig in sich geschlossen sein wie der Raum. So wie eine Seite des Universums mit der anderen verbunden war, war die allerfernste Zukunft mit der allerfernsten Vergangenheit verbunden.
Auf diese Weise konnte man die Vergangenheit entdecken: indem man auf ihre Echos lauschte.
Das endliche Universum besaß eine Topologie, eine Verbundenheit, die ihm beim Urknall auferlegt worden war, im Moment der anfänglichen Singularität. Vom Inneren des Universums aus konnte man diese Topologie nicht direkt sehen. Aber es gab Methoden, ihre Existenz sinnlich wahrzunehmen. Alia hatte einmal ein Spielzeug besessen, ein virtuelles Spiel.
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