Transzendenz
Perspektiven überwältigt zu werden, die sich überlappten und aufeinander prallten. Auf einer Ebene kämpfte sie darum, sich ihre Identität und Zielstrebigkeit zu bewahren und ihre Zweifel bezüglich der Erlösung zu klären – doch zugleich schämte sie sich ein wenig. Wer war sie, einen Massengeist in Frage zu stellen, der auf der Weisheit anderer gründete, die viel älter und klüger waren als sie? Selbst jetzt – so wenig sie sich auch dazu bereit fühlte – konnte sie sich einfach dem größeren Ganzen ergeben. Sie konnte Alia beiseite legen wie eine Kindheitserinnerung; sie konnte in die Transzendenz eintauchen, ohne je wieder an die Oberfläche zu kommen…
Und genau das wollte die Transzendenz, erkannte sie. Denn Alias nagende Fragen, die tief im Bewusstsein der Transzendenz saßen, machten diese nervös. Alia konnte es sich nicht als Verdienst anrechnen, diesen Konflikt innerhalb der Transzendenz verursacht zu haben, aber ihre Fragen rissen Wunden auf und verschärften einen bereits vorhandenen Konflikt.
Sie klammerte sich an sich selbst wie ein trotziges Kind, das sich nicht entschuldigen wollte. Das war ein echtes Dilemma für die Transzendenz, und Alia hatte die Pflicht, weiterhin ihre Fragen zu stellen: Was ist der wahre Zweck der Erlösung? Was ist ihr letztendliches Ziel? Was kostet sie? Und – wie weit wollt ihr es treiben?
Die Konstellationen winziger geistiger Wesenheiten schienen um sie herum zu schweben – und dann kamen sie mit schockierender Plötzlichkeit zusammen. Alia sah ein menschliches Gesicht, ein kleines, rundes, müdes Gesicht mit Augen wie Diamanten.
Und sie hörte eine Stimme, die in ihrem Kopf widerhallte. »Du gibst nicht auf, nicht wahr, Kind?«
»Ich will nur…«
»Was du willst, spielt keine Rolle. Die Transzendenz will, dass deine Zweifel der Gewissheit weichen. Denn sie sucht selbst Gewissheit. Du weißt, dass der Impuls zur Erlösung von den Gemeinschaften der Unsterblichen ausgeht. Also musst du die Unsterblichen treffen, die Allerältesten. Du musst mich treffen. Ich heiße Leropa. Komm zu mir.«
»Wo bist du?«
Plötzlich wurde sie aus der Transzendenz ausgestoßen.
Sie befand sich wieder in ihrem eigenen Körper, in Reaths Fähre. Sie lag auf einer Liege. Reath und Drea standen besorgt um sie herum. Aber die drei Campocs waren an eine Trennwand zurückgewichen, wo sie sich zusammendrängten wie verängstigte Kinder. Ihr ging durch den Kopf, dass die Vereinigung mit der Transzendenz Ähnlichkeit mit einer Krankheit hatte.
Und dieses seltsame Gesicht, Leropas Gesicht, schwebte vor ihr in der Luft. Alia schrie auf. Es war, als sei sie aufgewacht, ohne ihren Albtraum loszuwerden.
Es, sie, Leropa warf den Campocs einen geringschätzigen Blick zu. »Sie können mich mit ihrem kleinen geistigen Netz hören. Für die anderen bin ich unsichtbar.«
Alia setzte sich mühsam auf. »Wohin muss ich? Sag es mir.«
»Zur Erde«, antwortete die Frau.
Und dann war das Gesicht fort – es löste sich nicht auf und zerfiel auch nicht, sondern es verschwand einfach aus Alias Blickfeld, als hätte sie den Kopf abgewandt.
War irgendetwas von alledem wirklich geschehen? War diese seltsame Frau namens Leropa aus der Transzendenz herausgekommen, um mit ihr zu sprechen? Hatte sie wirklich von der Erde geredet?
Die Campocs drängten sich noch immer eng aneinander; sie zitterten und beobachteten sie furchtsam, und Drea starrte Alia verwirrt und besorgt an.
34
Ich sprach noch einmal mit Rosa. Sie erklärte mir: »Es hat eine starke Zunahme von Sichtungen auf dem ganzen Planeten gegeben – Geistererscheinungen, Poltergeist-Phänomene, was auch immer.«
»Wirklich? Davon hatte ich keine Ahnung.«
Sie schnaubte. »Wie solltest du auch? Dort, wo man solche Dinge entdecken könnte, würdest du dich gewiss nicht umschauen. Ich in normalen Zeiten ebenso wenig. Aber deine Erlebnisse haben mich veranlasst, Nachforschungen anzustellen. Ob es nun gut oder schlecht ist, Michael: Du bist nicht allein. Die ganze Welt sieht auf einmal Gespenster! Und das nicht zum ersten Mal. Das zeigt die Geschichte; es hat auch früher schon Geisterplagen gegeben. Also, was meinst du, was das bedeutet?«
Ich hatte keine Ahnung. Ich wusste nicht, ob ich beruhigt oder erschrocken sein sollte.
Ich verspürte Schuldgefühle, weil ich mich mitten im Hydratprojekt mit diesem Zeug beschäftigte. Ich hielt es vor Tom, Shelley und den anderen geheim. Es war so ähnlich, als schaute ich mir
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