Transzendenz
Erdreich gesetzte Maulwürfe von einem zentralen Punkt ausschwärmen und dabei ihre engen Tunnels hinter sich ausbreiten würden. Einige Maulwürfe würden periphere Kreise und radiale Bahnen ziehen, sodass in den Hydratbetten ein vielfach verbundenes Netz entstehen würde, eine Art dreidimensionales Spinnennetz.
»Das Netz wird schrittweise wachsen«, sagte Shelley. »Wir müssen einen stufenweisen Ansatz wählen, einfach weil es Zeit kosten wird, die industrielle Kapazität zur Massenproduktion all dieser Maulwürfe, Kondensatoren und Kollektoren zu steigern. Und außerdem hat noch niemand ein Rohrnetz von auch nur annähernd solchen Ausmaßen betrieben. Die Maulwürfe werden einige Zeit brauchen, um den besten Weg dafür zu finden.«
Dies war der moderne Ansatz der Ingenieurskunst. Man ließ seine mit so viel Intelligenz wie möglich ausgestatteten Maschinen die Dinge selbst ausknobeln und dann aus ihrer eigenen Vorgehensweise lernen. Auf diese Weise bestand nicht nur eine gute Chance, dass man am Ende eine optimale Konstruktion bekam, sondern man konnte auch damit rechnen, in jedem Stadium von einer optimalen Konfiguration zur nächsten überzugehen. Es war, als ersteige man einen Berg, sagte Shelley, indem man nicht nur den Gipfel ins Visier nahm, sondern in jeder Phase den bestmöglichen verfügbaren Weg wählte.
»Letztendlich«, meinte Tom, »wird also alles zu einer einzigen riesigen Kappe aus Siliziumgehirn im Boden des Polarmeers verschmelzen. So was von Hybris!«
»Glaubt mir, dieses Wort ist schon in meinen Grabstein gemeißelt«, erwiderte Ruud Makaay trübselig. »Ich kann nur sagen, dass wir Geotechniker niemals ein solches Projekt anpacken würden, wenn wir eine andere Wahl hätten.«
»Aber wir haben keine andere Wahl«, sagte Gea mit ihrer kleinen, absurden Stimme.
»Etwas verstehe ich immer noch nicht«, erwiderte Tom. »Ich bin zwar kein Ingenieur, aber ich erinnere mich doch an ein wenig Thermodynamik auf der Highschool. Ihr kühlt diese Hydratlager; ihr pumpt die Wärme mit eurem flüssigen Stickstoff heraus. Aber wohin geht all diese Wärme? Sie kann ja nicht einfach verschwinden, oder?«
»Natürlich nicht.« Shelley erklärte geduldig, dass unser Mechanismus seine Wärme letztendlich im Ozean und in der Luft abladen werde.
»Wenn wir das Projekt zu verkaufen versuchen, wird uns dieser Teil die meisten Probleme bereiten, fürchte ich«, meinte Makaay. »Weil es unseren Zahlmeistern sehr schwer fallen wird, das zu verstehen.«
»Nun, da ist keine Zauberei im Spiel«, sagte Shelley. »All diese Wärme muss ja irgendwohin. Aber die Netto-Injektion von Wärme in die Umwelt wird belanglos sein, verglichen mit dem katastrophalen Temperaturanstieg, der einträte, wenn die gewaltigen Treibhausgasvorräte der Hydrate freigesetzt würden, um ihr Werk zu verrichten. Überdies können wir die Auswirkungen der Wärmeinjektion jederzeit durch Albedo-Kontrolle mildern… Es ist ein notwendiges Übel.«
»Ich glaube, das verstehe ich nicht«, sagte Sonia.
Tom lachte. »Sie werden die ganze Wärme aus den Hydratschichten in die Luft pumpen. Es geht einzig und allein darum, dass die Welt sich nicht weiter aufheizt. Aber um das zu erreichen, müssen wir das Problem verschlimmern. Was für ein Witz.«
Der Gea-Roboter sagte: »Viele Aspekte der gegenwärtigen misslichen Lage der Menschheit sind ironisch. In der Tat ist das alles ein gewaltiger Witz. Ha ha.« Und er rollte hin und her und versprühte eine Kaskade von Reibungsfunken.
33
Auf der Suche nach Orientierung begab sich Alia zur Transzendenz.
Es fiel ihr leicht, sich wieder mit der Transzendenz zu vereinigen, selbst hier auf der Schwarmwelt. Als sie sie rief, sammelte sich die seltsame Konstellation geistiger Wesenheiten einfach um sie. Sobald man einmal Teil der Transzendenz geworden war, verließ man sie im Grunde nicht mehr; sie befand sich immer im Hintergrund des Lebens und wartete darauf, einen erneut in sich aufzunehmen.
Es war genau wie eine Sucht, dachte Alia beklommen.
Doch nun spürte sie eine Art Unruhe. Im Wissen um ihre Unvollkommenheit und ihre Unvollständigkeit arbeitete sich die Transzendenz zu ihrer Geburt voran – und alles war von diesen nagenden Schuldgefühlen wegen der blutigen Vergangenheit durchsetzt, aus der sie hervorging.
Alia betrachtete sich selbst, ihr körnchenartiges, ins größere Ganze eingebettete Bewusstsein. Teil der Transzendenz zu sein bedeutete, von menschlichen und übermenschlichen
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