Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Transzendenz

Transzendenz

Titel: Transzendenz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: authors_sort
Vom Netzwerk:
Ich habe sie mir im Tank oft angeschaut. Nach meiner Rückkehr aus der hypostatischen Vereinigung habe ich sie sogar noch einmal beobachtet, um mich zu vergewissern.«
    »Es war Pooles Kind«, soufflierte Drea.
    »Sein zweiter Sohn. Er ist an einem Herzfehler gestorben. Die Mutter ist ebenfalls gestorben – Morag. Dieses Ereignis hat Pooles ganzes späteres Leben geprägt. Ich habe es oft gesehen.«
    »Aber nie von innen«, sagte Reath grimmig.
    »Nein. Nicht auf diese Weise.«
    Alia verstand es jetzt. Sie hatte das Leben des Kindes mit ihm verbracht, sein ganzes Leben, von der Empfängnis bis zum Tod. Sie hatte das Gefühl, als wäre sie acht Monate weg gewesen – obwohl für die anderen nur acht Stunden vergangen waren. Wenn das Beobachten die erste Stufe der Erlösung war, so war dies die zweite. Anders als bei der konzeptuellen Schlichtheit des Beobachtens schaute man einem Leben nicht nur von außen zu; man sah es von innen. Man erlebte es Herzschlag für Herzschlag mit, vom Moment der Empfängnis bis zur Endgültigkeit des Todes, und teilte jede klitzekleine Empfindung, jedes Gefühl, jeden Gedanken. Das Einzige, was man nicht besaß, war ein Wille.
    »Es war kein sehr langes Leben«, sagte Alia. »Nicht einmal acht Monate – auch wenn Zeit anfangs nicht viel bedeutet hat. Aber ich habe alles miterlebt.«
    Drea schüttelte den Kopf. »Was hat es für einen Sinn, all diese Schmerzen mitzuerleben? Es ist so morbid.«
    »Ich glaube, ich verstehe die Theorie«, sagte Reath. »Im Zentrum der Erlösung gibt es eine Sehnsucht nach Sühne, den Wunsch, die Vergangenheit in sich aufzunehmen. Vielleicht lässt sich das durch eine Versöhnung erreichen, eine persönliche Vereinigung mit einer Person aus der Vergangenheit. Das Beobachten war ein erster Schritt. Aber indem man zu dieser zweiten Stufe wechselt, indem man mit dieser Figur leidet, indem man an einem solchen Leben teilhat, können die Qualen der Vergangenheit« – er wedelte mit einer Hand – »ausreichend internalisiert werden.«
    »Ausreichend wofür?«, fragte Bale skeptisch.
    »Um dieses seltsame übermenschliche Schuldgefühl loszuwerden.«
    Seer lachte. »Das ist also die Wahrheit hinter unserer ruhmreichen Transzendenz, unserer übermenschlichen Zukunft? Es ist alles nur eine schmerzliche, nostalgische Sehnsucht nach dem Mutterleib?«
    »Ich finde es trotzdem morbid«, erklärte Drea.
     
    Nach einem Tag im Orbit ging Alia wieder zur Erde hinunter. In den langen Schatten der zerstörten Kathedrale traf sie sich erneut mit Leropa.
    »Reath spricht von Sühne«, sagte Alia. »Er meint, wenn man sich mit einer Figur aus der Vergangenheit vereinigt, könnte man ihren Schmerz vielleicht abbüßen.«
    »Reath ist ein kluger Mann«, sagte Leropa.
    »Deshalb bin ich mit Pooles verlorenem Sohn vereinigt worden.«
    »Ja. Die zweite Stufe ist eine hypostatische Vereinigung mit der Vergangenheit, eine Vereinigung auf substantieller Ebene unterhalb externer Differenzen, jenseits der Belanglosigkeiten von Verortungen in Raum und Zeit. Du hast die kleine Freude dieses armen Kindes gespürt, seinen Schmerz. Und du wirst es nie wieder vergessen, nicht wahr?«
    »Nein«, sagte Alia inbrünstig. »Und das ist die Erlösung?«
    »Damit fängt sie an«, sagte Leropa.
    Alia runzelte die Stirn. »Ich muss das noch einmal tun?«
    Die Frage schien Leropa zu überraschen. »Natürlich.«
    »Ich muss noch einmal ein ganzes Menschenleben durchleben?«
    »So schlimm ist das nicht«, sagte Leropa. »Subjektive Zeit, die Zeit der Hypostase, vergeht schneller als die äußere Zeit. Die Vereinigung mit Michael Poole selbst, einem Leben, das fast hundert Jahre umspannt hat, würde beispielsweise nur ein paar Tage dauern.«
    »Aber für mich hundert Jahre«, sagte Alia. »Hundert Jahre, in denen ich hilflos in einem gepeinigten Körper der Vergangenheit gefangen wäre. Wie könnte ich das überstehen?«
    »Oh, das würdest du. Du bist stark, das sehe ich. Und außerdem…«
    Alia begriff es sofort. »Ich würde es wieder tun müssen. Ein weiteres Leben ertragen. Wieder und immer wieder.« Aber die Gegenwart war eine Oberfläche, die einen großen Ozean der Vergangenheit umgab; die Zahl der Toten übertraf die der Lebenden bei weitem. »Wie viele Leben müsste ich durchleben, Leropa?«
    Leropa runzelte die Stirn. »Wenn du diese Frage stellen musst, verstehst du das Wesen der Transzendenz nicht.«
    »Wie viele?«
    »Alle«, sagte die Unsterbliche schlicht.
    Es war die fundamentale

Weitere Kostenlose Bücher