Transzendenz
mir ein Manuskript gegeben, einen Stapel von sechs- bis siebenhundert eselsohrigen Seiten Computertext, die mit ein paar Stücken Kordel zusammengebunden waren. Ich konnte es natürlich nicht anfassen oder die Seiten umblättern. George sagte, er habe mir schon eine Datei mit dem Inhalt geschickt, aber er wolle, dass ich das Manuskript selbst sähe. Wenn ich weg sei, werde er es ins Feuer werfen.
»Das habe ich in Amalfi geschrieben. Ein Grund, weshalb ich so lange dort geblieben bin. Ich wollte es loswerden, wollte die Geschichte erzählen, und sei es nur einem Computerspeicher.«
»Das ist die Geschichte, wie du Rosa in Rom aufgespürt hast.«
»Ja. Und was ich dort gefunden habe.«
»Du hast das nie jemandem gezeigt?«
»Nein. Wem hätte ich es zeigen sollen? Aber ich will nicht, dass es im Dunkeln verschwindet.« Er zuckte die Achseln; seine Schultern unter dem weiten Wollpullover waren wie knochige Flügel. »Mach damit, was du willst.«
Ich merkte, dass ihm dies weitaus mehr bedeutete, als sein beiläufiger Ton vermuten ließ. »George – was hast du in Rom gefunden?«
»Steht alles da drin«, sagte er.
»Ich weiß. Aber ich möchte hören, was du dabei empfunden hast. Du hast Rosa beim Orden aufgespürt, soviel weiß ich…«
Er hatte den Weg zu Rosa gefunden, die ihn ins Hauptquartier des Mächtigen Ordens der Heiligen Maria, Königin der Jungfrauen, mitgenommen hatte. Der Orden war in einem riesigen Untergrund-Komplex unter den Katakomben beheimatet gewesen, den uralten, unterirdischen christlichen Gräbern in den Randbezirken Roms. »Es war Atombunker und vatikanische Krypta in einem«, sagte George finster. In dieser Umgebung war Rosa aufgewachsen. »Sie bezeichneten sich als Schwestern.«
»Wie Nonnen?«
»Nein. Schwestern.« Der Orden sei wie eine einzige große Familie gewesen, sagte er. Und er habe größtenteils aus Frauen und nur sehr wenigen Männern bestanden. »Jede war die Schwester oder Cousine, Tante oder Nichte von jeder anderen.«
»Oder die Mutter oder Tochter«, sagte ich.
»Oh, jede war eine Tochter. Aber es gab nur sehr wenige Mütter. Ich nannte sie die Königinnen. Aber das war natürlich nicht die Sprache, die sie benutzten. Matres – so hieß das Wort.«
Es hat seine Vorteile, wenn man zu viel alte Science-Fiction gelesen hat. Ich sah es sofort. »Verdammt«, sagte ich. »Du meinst, der Orden war ein Schwarmbewusstsein.«
»Von Bewusstsein war da nicht viel zu spüren«, sagte er. »Ich weiß nicht, was zum Teufel es war. Ich bin kein Soziobiologe. Aber eins kann ich dir sagen: Es war keine menschliche Gemeinschaft.« Er tippte erneut auf sein Manuskript. »Steht alles da drin. Und weißt du was? Es war ein Zweig unserer Familie, dessen tiefe Wurzeln offenbar bis in die Zeit des alten Rom zurückreichen. Unsere Familie. So ist Rosa da hineingeraten. Und ich wohl auch.«
Kein Wunder, dass Rosa von der seltsamen kollektiven Organisation des Riffs fasziniert gewesen war, dachte ich. Ich lächelte gezwungen. »Du sagst ja immer, wir Pooles seien ein komischer Haufen.«
»Sind wir auch.« Seine Miene war düster. »Und jetzt passiert es wieder.«
»Was denn?«
»Ich hatte mal einen Freund, der mir geholfen hat, aus all dem schlau zu werden. Es steht hier drin.« Er blätterte in dem Manuskript und suchte nach einer Passage im hinteren Teil. »Hier ist es. ›Die großen Ereignisse der Vergangenheit – beispielsweise der Untergang Roms oder der Zweite Weltkrieg – werfen lange Schatten und beeinflussen spätere Generationen. Aber ist es möglich, dass auch die Zukunft Echos in der Gegenwart hat?‹… Ich dachte, ich hätte in diesem Loch im römischen Boden die Zukunft der Menschheit gesehen, Michael. Oder eine Zukunft. Ich kann nicht behaupten, dass mir dieser Anblick gefallen hat. Und vielleicht passiert es jetzt wieder, mit dir und Morag. Echos der Zukunft in der Gegenwart.«
»Aber warum jetzt? Warum wir?« Ich wollte nicht recht sagen: Warum ich?
»Vielleicht, weil wir uns an einem gefährlichen Zeitpunkt in unserer Geschichte befinden, Michael.« Er schaute auf seinen Handrücken, zupfte an altersbraun gefleckter Haut. »Weißt du, als ich noch klein war, konnte ich mir einfach nicht vorstellen, dass ich mal so alt werden würde. Ich habe mich nie für Gartenarbeit interessiert, weil ich dachte, ich würde nicht lange genug leben, um einen Baum groß werden zu sehen. Weißt du, warum? Die Gefahr eines Atomkriegs, der Auslöschung in einem Lichtblitz… sie
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