Transzendenz
einem sehr blassen, sehr kalten blauem Himmel ab, und am Ufer hatte EI erneut ein Zelt für die Besucher aufgebaut. Aber diesmal war das Zelt viel größer und imposanter als zuvor. Dieses Zelt war mehrere Stockwerke hoch, wie ein transparenter Wohnblock, und die Wände waren so durchsichtig, dass man sie kaum wahrnahm, außer wenn der Wind vom Meer sie in wellenartige Bewegung versetzte.
Als ich eintrat, wurde ich von trockener, klimatisierter Wärme empfangen und tauchte sofort in ein angenehmes Gewirr von Stimmen und Geräuschen ein. Irgendwo spielte unaufdringliche Musik, ein warmes Bad von Klängen. Man hatte einen sehr guten Blick auf unsere Bohrinsel und die anderen alten Ölförderanlagen, die diesen Teil der Küste verschandelten. Der Boden war von Wand zu Wand mit Teppichboden von einem blassen, grünbraunen Webmuster ausgelegt, Farben, die im Einklang mit den Tundra-Schattierungen der North Slope standen. Über mir hingen Fahnen, ein Sternenbanner, die UN-Flagge, Transparente mit dem EI-Logo und dem Kind in der Wiege, dem Symbol des Patronats. Alles sehr nobel: Die EI-Leute hatten viel Erfahrung mit solchen Events und wussten, wie man Eindruck machte, ohne die Adressaten zu überwältigen.
Wir hatten eine recht große Menschenmenge angelockt. Überall im Zelt wandelten teuer gekleidete Leute gut gelaunt umher und erzeugten einen Geräuschteppich lauter Konversation, als Bekanntschaften gemacht und erneuert und zweifellos Geschäfte abgeschlossen wurden, von denen sicherlich nur wenige etwas mit unserem Hydratprojekt zu tun hatten. Servier-Bots schwebten mit Tabletts voller Getränke und exotisch aussehender Snacks in der Luft. Hier und dort erkannte ich subtile Projektionsfehler: Füße in teuren Schuhen hingen mysteriöserweise einen Zentimeter über dem Teppichboden, ein Gewand wogte in einer nicht vorhandenen Brise, ein Schatten auf einem schönen Gesicht wurde von einer unsichtbaren Lichtquelle geworfen. Ich schätzte, dass nur rund zehn Prozent dieser VIPs persönlich anwesend waren.
Dies war die andere Seite des gewaltigen Zusammenbruchs der Beförderungs-Infrastruktur, den Edith Barnette teilweise überwacht hatte. Nur wenige Regierungsbehörden, Konzerne und andere Organisationen »existierten« in irgendeinem realen Sinn woanders als im Cyberspace; und wenige Menschenmengen waren wirklich so umfangreich, wie es den Anschein hatte. Nun, bei diesem Anlass war es wahrscheinlich nur gut, dass die Leute projizierten statt zu reisen. Wenn so viele VIPs in Fleisch und Blut über Prudhoe Bay hereingefallen wären, hätte mein tristes Hotel in Deadhorse mit seinen launischen Toiletten und allem den Ansturm überhaupt nicht mehr verkraftet.
Irgendwo in dieser Menge befand sich jedoch Edith Barnette, und sie war auch diesmal wieder persönlich hier. Ebenso wie mein Bruder John, Tom und Sonia, Shelley und Vander Guthrie – alle Mitglieder des Kernteams, die auf ihre unterschiedliche Weise von Anfang an die treibenden Kräfte hinter dem Projekt gewesen waren. Ich schlenderte durch die Menge und bemühte mich, bekannte Gesichter ausfindig zu machen und die Nerven zu behalten.
Überall waren Kameras, Mikrofone und andere Sensoren; unterwegs senkten sich große Drohnen auf mich herab, und eine belebte Wolke aus elektronischem Staub umwirbelte mich. Angesichts der Tatsache, dass jede Menge VIPs zugegen waren, fand ich es ein wenig beunruhigend, dass ein so großer Teil dieser elektronischen Aufmerksamkeit mir galt. Ich versuchte, nicht an Georges Spekulationen zu denken, dass ich womöglich unter sogar noch eingehenderer Beobachtung einer neugierigen Zukunft stünde.
In diesem Moment sah ich Morag.
Ich sah sie aus dem Augenwinkel. Sie bewegte sich in einiger Entfernung von mir durch die Menge. Ich drehte mich hilflos zu ihr um, so wie immer. Ich glaubte, dass sie sich zu mir umdrehte, ich glaubte, dass sie lächelte, aber bevor ich mir auch nur Gewissheit verschaffen konnte, dass sie es war, verlor ich sie hinter einer Traube plappernder VIPs aus den Augen.
Ich wollte nicht, dass dies geschah. In den letzten paar Tagen hatte ich immer wieder solche Erscheinungen gehabt – erlitten wäre das treffendere Wort. Es hatte keine Wiederholung jenes unmittelbaren Zusammentreffens draußen in der Tundra gegeben, als sie uns lächelnd gestattet hatte, ihr Bild aufzunehmen und ihre Worte aufzuzeichnen, auch wenn wir sie nicht verstehen konnten. Ich befand mich wieder in einer Welt flüchtiger Eindrücke, in der
Weitere Kostenlose Bücher