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Transzendenz

Transzendenz

Titel: Transzendenz Kostenlos Bücher Online Lesen
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weiter.
    Nach ausreichend langer Zeit machte sich die natürliche Auslese bemerkbar und prägte die unglücklichen Besatzungen dieser Schiffe; wie immer arbeitete sie daran, die ihr unterworfenen Populationen an deren Umgebung anzupassen. Und in der Abgeschlossenheit eines Generationen-Sternenschiffs gab es immer ein ganz bestimmtes Opfer, das von jenem erbarmungslosen Skalpell weggeschnitten wurde: der Verstand.
    Wozu brauchte man auf solchen Schiffen auch einen Verstand? Das Schiff regelte seine Angelegenheiten mehr oder weniger selbst, sonst wäre es ohnehin nicht so weit gekommen. Eine intelligente Besatzung würde nur unruhig werden und sich fragen, was jenseits der Wände war – oder noch schlimmer, sie würde an den Rohrleitungen herumbasteln. In der ersten Generation würde ein solches Verhalten gegen die Schiffsgesetze verstoßen. In der hundertsten würde es eine Sünde sein, ein Tabu. In der tausendsten würde es ein Selektionsfaktor sein.
    Dies war der Ursprung der Schiffbauer. Ihre Schiffe waren immer weiter geflogen, obwohl die Nachfahren der ersten Besatzung schon längst jene Intelligenz verloren hatten, die den Start des Schiffs überhaupt erst ermöglicht hatte. Sie erhielten die grundlegenden Systeme ihrer Schiffe instand, wenn auch nur rein mechanisch. Sie entwickelten sogar einen gewissen Erfindungsreichtum bei solchem Firlefanz wie äußeren Überbauungen. Ihre Schiffe wurden auffällige, unglaublich unpraktische Kreationen, deren Zweck darin bestand, andere Besatzungen gleicher Art anzulocken – und sich zu paaren.
    Und sie erinnerten sich daran, wie man Waffen baute, um Piraterie zu betreiben – oder vielmehr, da Piraterie eine bewusste Zielvorstellung voraussetzt, Parasitismus. Das war notwendig. Keine geschlossene Ökologie war vollkommen; jedes Sternenschiff brauchte eine gewisse Auffrischung. Die Schiffbauer nahmen sich einfach, was sie brauchten.
    »Sie sind brutal«, sagte Alia zu Reath, »weil sie keinen Verstand besitzen. Sie setzen sich in Raketen, mit denen sie ihre Ziele durchbohren und wahllos alles einsammeln, worauf sie stoßen.«
    »Und darum haben sie eure Nord zerschossen«, meinte Reath.
    Alia sagte: »Die Schiffbauer sind für uns der Stoff, aus dem Albträume sind.«
    »Weil sie jederzeit aus dem Dunkeln angreifen können. Ein willkürlicher Horror.«
    »Nicht nur das. Die Schiffbauer haben dieselbe Herkunft wie wir. Wir hätten ebenso tief fallen können. Sie sind wie wir.«
    Reath nahm Alia unerwartet in die Arme. »Nein«, sagte er. »Sie sind nicht wie ihr. Denk das niemals.«
    Einen Moment lang war sie starr vor Schreck. Dann sank sie an sein muffiges Gewand, und endlich kamen die Tränen.
     
    Sie verbrachte die Nacht zusammen mit Drea in einer kleinen Kabine in Reaths Fähre, die um das Wrack der Nord kreiste. Sie teilten sich eine Koje. Manchmal hielten sie einander fest, und manchmal lagen sie einfach nur zusammen da, Rücken an Rücken, oder kuschelten sich aneinander.
    Alia war nicht sicher, ob sie überhaupt schlief. Ihr Kopf war voller Schmerz, voller beginnender Sehnsucht, voller Schuldbewusstsein und Trauer. Sie kämpfte sich noch immer durch ihren Gefühlswirrwarr in Bezug auf ihre Mutter und ihren Bruder und rang mit ihrem Schuldgefühl, weil sie ihren letzten Streit nun nicht mehr beilegen konnte. Unter all dem lag jedoch die simple Fleisch-und-Blut-Realität des Verlusts. Eine Familie war niemals etwas Festes, dachte sie, sondern immer ein Prozess. Jetzt war dieser Prozess abgebrochen worden, und er hatte nichts hinterlassen als eine Blutlache auf dem Fußboden. Nicht nur ihre Mutter, nicht nur ein Bruder war gestorben, sondern auch ihre Familie.
    Es kam ihr seltsam vor, dass solche Dinge in einer Galaxis geschehen konnten, die von einer überlegenen Form des Bewusstseins beherrscht wurde. Und während die Transzendenz sich mit dem Verlust aller menschlichen Vorfahren herumquälte, versuchte sie hier, um ihre eigene Mutter zu trauern. Vielleicht spürte sie in ihrem verworrenen Schmerz einen Schatten der höheren, intensiveren Trauer, welche die Transzendenz zu ihrem Erlösungsexperiment getrieben hatte.
    Und die Transzendenz musste natürlich über die Katastrophe Bescheid wissen, dachte sie widerstrebend, so wie über die ganze Vergangenheit. Die Transzendenz musste im Prinzip bereits versuchen, das Leid wieder gutzumachen, das ihr, Alia, zugefügt worden war, so wie jeden kleinen Schmerz und jedes Leid bis zurück zum Heraufdämmern des menschlichen

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