Transzendenz
würdest du dich fühlen?«
Zu wissen, dass man eines Tages mit Sicherheit sterben würde, war eine Sache. Aber wenn man wüsste, dass es zumindest eine Chance gab, unbegrenzt weiterzuleben, würde das alles ändern. Wie würde sie sich fühlen? »Anders.«
»Nämlich wie? Was ist mit anderen Menschen? Du hattest kürzlich einen heftigen Streit mit deinen Eltern. Würdest du in dieser Sache anders empfinden, wenn du dächtest, dass du noch ein viele tausend Jahre langes Leben vor dir hättest?«
»Dann hätte es diesen Streit gar nicht gegeben«, erwiderte sie sofort. Wenn ihre Mutter stürbe, bevor sie sich wieder versöhnen konnten, würde Alia es immer bereuen. Und wenn sie noch viele zehntausend Jahre oder mehr lebte, würde diese Reue unauslöschlich in ihrer Seele brennen. »Letztendlich würde es mich wahnsinnig machen. Wenn ich wüsste, dass ich nicht sterben würde, täte ich nach Möglichkeit nichts, was ich vielleicht ewig bereuen müsste.«
»Du würdest vorsichtig werden.«
»Ich würde mir keine Feinde machen. Und ich würde meinen Freunden nicht wehtun.« Aber vielleicht würde ich mir gar nicht erst Freunde suchen, dachte sie, wenn ich wüsste, dass ich sie bis in alle Ewigkeit am Hals hätte – oder, noch schlimmer, sie überleben würde.
Reath beobachtete sie, als versuche er, ihren Gedankengängen zu folgen. »Was noch? Ich weiß, du bist ein Skimmer. Darum beneide ich dich! Aber das eigentlich Aufregende am Skimmen ist das Risiko, nicht wahr? Nun, wenn du unter den gegebenen Umständen einen Unfall hättest, wenn du es fertig brächtest, dich zu töten, würde dich das ein paar Jahrhunderte kosten. Aber was wäre, wenn du Jahrtausende aufs Spiel setzen würdest – eine unbegrenzte Zukunft?«
Sie schnaubte. »Ich hätte weitaus mehr zu verlieren. Wenn man skimmt, denkt man nicht bewusst darüber nach, aber… wenn ich deine Pille genommen hätte, würde ich mein Zimmer nicht mehr verlassen!«
»Angenommen, deine Schwester wäre jetzt hier bei uns, und sie fiele ins Meer. Würdest du sie zu retten versuchen?«
»Ja!«
»Selbst zum Preis von hunderttausend Lebensjahren?«
»Ich…« Sie schüttelte den Kopf.
»Was meinst du, wie andere Menschen zu dir stünden?«
»Sie würden mich hassen«, sagte sie sofort. »Sie würden mich beneiden – sich gegen mich wenden.«
»Wegen deines langen Lebens? Selbst wenn sie wüssten, dass deine Langlebigkeit einem bestimmten Zweck dient, nämlich ihre Lebensbedingungen zu verbessern?«
»Trotzdem. Sie sähen alle nur, dass ich weiterlebe, wenn sie schon Staub sind. Mir ginge es jedenfalls so. Ich müsste mich verstecken…« Sie schüttelte den Kopf. »Ein tolles Geschenk wäre das! Ich wäre gelähmt vom Gedanken an all diese Zukunft. Ich müsste mich verstecken.«
»Ich glaube, du verstehst allmählich«, sagte er. »Die Erlangung der unbegrenzten Langlebigkeit, der Erlösung von einer begrenzten Lebensspanne, ist ein Phasenübergang wie die Verwandlung von Eis in Wasser, eine vollständige Transformation. Und du müsstest einen Weg finden, um etwas zu tun, der Menschenwelt einen Beitrag zu leisten, etwas zu bewirken, obwohl dieses große Gewicht der Zeit über dir hängt.«
»Weshalb muss ich etwas tun?«
»Weil Langlebigkeit in einem uralten Universum für die allergrößten Projekte erforderlich ist. Ein Menschenleben ist einfach zu kurz, um wahre Weisheit zu erlangen. Wenn man herausgefunden hat, wie etwas funktioniert, altert man, büßt seine Fähigkeiten ein und stirbt.«
»Aber Michael Poole ist nicht einmal hundert Jahre alt geworden.«
»Das stimmt. Erstaunlich, dass diese armen Urzeitler so viel erreicht haben!«
»Reath, wenn ich eine Transzendentin würde, was wäre dann mit meiner Familie?«
»Sie könnte dir nicht folgen«, sagte er sanft.
Sie würde allein sein, dachte sie, von der Zeit an einem einsamen Gestade ausgesetzt. Ihre Angehörigen und Freunde würden einer nach dem anderen zu Staub werden – selbst Drea, ja sogar ihr neuer kleiner Bruder. Könnte sie damit leben? Nur wenn sie sich zurückzog, wenn sie ihr Herz verschloss. Wie könnte sie freiwillig einen solchen Weg einschlagen?
»Reath, du hast gesagt, ich würde vielleicht Weisheit in mir entdecken. Ich bin überhaupt nicht klug. Ich lebe noch nicht lange genug. Frag meine Mutter, wie klug ich bin!«
»Es geht nicht um dein Alter. Wenn du weißt, dass du nicht sterben wirst, ist es nicht deine Vergangenheit, die dir Weisheit verleiht. Es ist deine Zukunft
Weitere Kostenlose Bücher