Trapez
steuerte ihn zum Sattelgang. Tommy fühlte durch den dicken Nebel in seinem Kopf etwas Wildes, Gefühlsbestimmtes, in der Art, wie sie dieses Mal hineingingen, wie ein verschworener Haufe. Die Santellis sind immer bereit. Zum ersten Mal hatte er verschwommen eine Ahnung davon, dass ihn das Wissen, auftreten zu müssen – jederzeit, was auch passiert – aufrecht halten würde, trotz persönlicher Krisen, Tragödien, Tod. Die Santellis sind immer bereit. Und er war einer von ihnen. Er hob sein Kinn, ging neben Mario her und versuchte, genauso ruhig und arrogant auszusehen.
Die Kapelle schmetterte den Auftrittstusch, der Scheinwerfer fing sie am Rand der Manege ein, und Tommy atmete tief ein. Automati sch steckte er seinen Finger in den Halssaum und fühlte mit aufflackernder Überraschung dort die kleine Sankt-Michaels-Medaille. Er konnte sich überhaupt nicht erinnern, sie vom Kragen seines Pullovers umgesteckt zu haben. Die Lichter brannten in seinen Augen. Dann stand er auf der Plattform neben Mario, sein Magen zog sich krampfartig zusammen, aber das war ein gewohntes Gefühl. Er griff nach der Trapezstange, fühlte sie hart und wirklich und schwer in seiner Hand. Jetzt kam die Realität in Form von Marios wei ss umwickelten Handgelenken, neben seinen am Trapez, die dünnen, schwingenden Seile der Fangtrapeze, wo Angelo und Papa Tony für diese Nummer schwangen; sein Körper, der sich immer höher wölbte; alles andere war weit entrückt; und als er durch die Luft flog, schien die Welt an ihm vorbeizurauschen …
Irgendwie war der Auftritt überstanden: der letzte Trommelwirbel, der Zweieinhalbfache, der Applaussturm. Mario verbeugte sich wie immer. Tommy fühlte sich wieder benommen, als er das Seil zum Boden runterglitt.
Zurück im Trapezwagen sagte Angelo: »Zieht Euch beide an so schnell ihr könnt. Du mu ss t fahren, Matt. Ich glaub’ nicht, dass ich es schaffe.«
Jim Lambeth betrat den Wagen. »Angelo, alles in Ordnung?«
»Ja, ich glaub’ schon«, sagte Angelo kurz, und Tommy sah mit erneutem Grausen das Blut, das unter dem Verband an Angelos Arm herausgesickert war.
»Was ist passiert, Angelo?« flüsterte er.
»Hast du es nicht gesehen? Er hat deinen Vater direkt unter Prince weggezogen.«
»Es ist wahrscheinlich okay«, sagte Angelo, »aber ich hol’ mir besser eine Tetan usspritze oder so was – Katzen klauen sind immer septisch. Kann ich irgendwas tun, Jim?«
»Ja, find heraus, was Beth machen will«, sagte Lambeth. »Sie war nur darüber besorgt, dass wir die verdammte Katze nicht erschießen . Keine Sorge, Angelo. Wir bauen euer Trapez schon ab und verstauen es.«
Tommy saß betäubt zwischen Mario und Angelo im Santelli-Wagen. Zum ersten Mal sagte Angelo nichts über Marios Fahrweise. Sie mu ss ten an einer Tankstelle fragen, bevor sie das Krankenhaus fanden. In dem unbarmherzigen Licht des Krankenhauskorridors sahen sie wie drei Schläger aus. Sie hatten alte Hosen über ihre Trikots gezogen. Angelo trug noch immer sein Kostümoberteil, einen Requisiteursmantel darüber geworfen. Die adrette, niedliche Schwester starrte sie an und wich ganz langsam zurück.
»Mr. Zane? Der Fall, den sie mit dem Krankenwagen vom Zirkusplatz gebracht haben? Eine Minute bitte, ich glaub’, er wird noch operiert. Hier entlang, bitte.«
Sie führte sie den Flur entlang zu einem Wartezimmer.
Tommy sah dort seine Mutter, bla ss und müde aussehend, ein großer Blutfleck vorn auf ihrem Kleid. Sie sprang auf und rannte zu ihm.
»Tommy, Tommy, Tommy…«, flüsterte sie. Er drückte sie an sich und fühlte sie zittern und weinen. Nach einer Minute beruhigte sie sich.
»Angelo, gut, dass du gekommen bist.«
»Na ja, ich mu ss te sowieso kommen, um meinen Arm nachsehen zu lassen.«
»Wenn du nicht gewesen wärst«, sagte sie und hielt seine Hand mit beiden Händen. Angelo schüttelte verlegen den Kopf. »Okay, okay, Beth, ist schon gut. W ie geht’s Tom? Was ist überhaupt passiert? Wie schlimm ist es?«
»Prince hat ihn dreimal mit der Pranke getroffen – einmal unten am Arm, dann zweimal an den Rippen. Er hat viel Blut verloren, un d er hat eine Wunde über dem Au ge…« Sie brach hilflos zusammen und begann zu weinen.
Mario nahm sie an den Schultern und setzte sie sanft in einen Stuhl.
»Tommy, du bleibst hier bei deiner Mutter. Elizabeth, ich geh’ jetzt und hol dir heißen Kaffee. Angelo, du suchst jemanden, der nach deinem Arm sieht.«
Tommy saß neben seiner Mutter im Wartezimmer.
Nach
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