Trapez
»Hey, Mario, hat Liss ihr Baby schon bekommen?«
»Hoffentlich nicht«, sagte Mario. »Es soll erst im September kommen.«
»Na ja, Papa Tony hat ein Telegramm bekommen, und das war alles, was mir dazu einfiel. Es ist doch alles in Ordnung, Mario?« fragte er plötzlich beängstigt. Coe Wayland hatte sich so seltsam benommen, und Mario war so unerwartet freundlich zu ihm.
Mario sagte barsch: »Wenn’s dich irgendwas angeht, wird Papa es dir erzählen, wenn die Zeit soweit ist. Er hat eben ein Telegramm bekommen. Sei nicht so verdammt neugierig!« Einen Mo ment lang entspannte sich Tommy – Mario war wieder ganz normal –, aber dann bekam er wieder Angst. Als Stella für die Akrobatennummer zu ihnen kam, sah sie ihn schnell an und dann gleich wieder weg.
Oben auf dem Trapez konnte er es alles beiseiteschieben , so wie es ihm beigebracht worden war. Da oben ist alles unwichtig, wirklich alles, außer , ob ich korrekt vom Trapez abkomme. Aber er kam nach dem Trapezakt in betäubter, wachsender Erwartung zurück. Was war passiert? Was verschwiegen sie ihm?
Um sie herum bauten die Arbeiter das Umkleidezelt ab.
Der Trapezakt war der letzte Teil der Show, die Koffer der anderen Artisten waren bereits weg, und der größte Teil des Zeltes war um sie herum schon abgebaut, bereits in den Zirkuszug verladen. Papa Tony legte seine Hand auf Tommys Schulter, und plötzlich platzte seine Angst aus ihm heraus: »Was ist passiert? Was ist los? Was verschweigt ihr mir? Warum seht ihr mich alle so an? Es ist so, als ob jemand tot ist…«
Angelo legte einen Arm um ihn. »Komm und setz dich, Tommy«, sagte er sanft, »wir haben dir etwas zu sagen…«, aber Tommy stürzte los und ergriff das Billboard-Exemplar auf Papa Tonys Koffer.
»Nein!« sagte Mario eindringlich. »Nimm’s ihm weg, Johnny. La ss ihn nicht…« Aber Tommy hatte schon durch die Seiten geblättert, schnell, ängstlich, und hielt bei der Überschr ift an: EHEPAAR KOMMT AUF BAHN ÜBERGANG UM. Er überflog es schnell.
Tom Zone, Dompteur beim Zirkus Lambeth … Auto und Wohnwagen auf der Stelle zerstört… Beth Zane, seine Frau…
»O Gott«, sagte er benommen. »Und ich hab’s nicht einmal gewu ss t. Ich hätte da sein sollen, ich hätte bei ihnen sein sollen …«
Angelo sagte mit heiser und sanfter Stimme, einen Arm fest um Tommy gelegt: »Nein, Junge. Nein. Wenn sie überhaupt etwas gemerkt haben, dann war wahrscheinlich das letzte, was sie dachten, dass sie froh waren, dass du nicht dabei warst, dass es dir gut geht.«
Seine Mutter, sein Vater.
»Weine nicht«, sagte Mario und blickte auf ihn herab, weiß und erschüttert. »Ich kann es nicht ertragen, wenn du weinst, Tommy…«
»Du hast es gewu ss t. Du hast es den ganzen Abend gewusst ! Du hast es gewu ss t, und du hast es mir nicht gesagt…« Es war ein ungeheuerlicher Verrat. Marios Freundlichkeit, bloß um ihn vom Platz wegzubekommen, bloß um ihn davon abzuhalten, Fragen zu stellen.
»Es ist nicht seine Schuld«, sagte Angelo. »Ich war es, der gesagt hat, dass wir es dir nach der Vorstellung sagen sollten, wenn sich alles etwas beruhigt hat, wenn wir Zeit hätten – Zeit, um bei dir zu sein…«
»Hey, Santellis! Beeilt euch da drinnen. Wir müssen das Zelt abbauen!« Einer der schwarzen Arbeiter kam heran. »Seid ihr mit diesen Koffern fertig, können die weg?«
»Sicher, nimm sie«, sagte Angelo und legte seinen Mantel um Tommys Schulter. »Komm, Junge, nimm es nicht so schwer…«
Das war es, worüber Coe Wayland geredet hat. Er hat gemerkt, wer ich bin, und dass ich es noch nicht wu ss te …
Papa Tony legte seinen Arm um Tommy, als sie aus dem Zelt gingen. Er sagte: »Dies ist nicht der richtige Moment; vielleicht gibt es überhaupt keinen. Ragazzo, ich weiß , es ist jetzt kein Trost für dich. Aber du mu ss t dran denken, du bist nicht ganz allein. Du hast uns alle; du hast immer noch eine Familie. Jetzt bist du wirklich mein Sohn.«
Tommy legte seinen Kopf für einen Moment auf Papa Tonys Schulter und fühlte die raue Wolle seines Pullovers und wie seine harten Hände auf seinen Rücken klopften. Aber er weinte nicht. Er nahm verschwommen wahr, wie sie in den Zubringerbus einstiegen, der sie vom Platz zum Zirkuszug brachte. Als s ich die Nebel auflö sten, war er allein in ihrem Abteil mit Mario.
»Du hast es gewu ss t. Du hast es gewu ss t, und du hast mir nichts gesagt…«
»Es war das Schwerste, was ich je tun mu ss te, Tommy«, sagte Mario heiser. »Ich wollte es
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