Trapez
dunklen Augen über ihn gebeugt, und lächelte.
»Wach auf, Dummchen. Überrascht? Wir sind so spät gekommen, dass Papa Tony mich hierbehalten hat. Du hast so fest geschlafen, ich weiß nicht einmal, ob du dich rumgedreht hast, als ich reinkam.«
Tommy wollte scharf erwidern: »Bist du blöd’ oder was? Wir haben geredet, du Idiot!« Aber dann, durch einen Schimmer in Marios Augen, durch einen Hauch der Erinnerung, durch die verschwommene, en tspannte Wär me seines eigenen Körpers, wu ss te er, was Mario ihm sagen wollte, ohne etwas zu sagen. So war’s. Wenn er nachgedacht hätte, wü ss te er, dass so etwas nicht ans Tageslicht getragen werden konnte und sie sich gleichzeitig noch hätten ansehen können. Was immer es war: Trunkenheit oder Schläfrigkeit – was soll’s, vielleicht hat er gedacht, ich sei seine Freundin –es war etwas, das rasch verworfen werden mu ss te.
»Ja«, sagte er langsam. »Wann bist du überhaupt angekommen? Ich hab’ wie ein Murmeltier geschlafen.«
KAPITEL 10
Eines Morgens Ende März ging Tommy hinunter zum Übungsraum und fand dort Johnny allein vor, in Straßenkleidern , aber barfuß , mit den Federn am Trampolinrahmen beschäftigt.
»Schwänzt du heute, Tom?«
»Nein, die Schule ist vorbei.«
Tommy warf seine Schuhe in die Kiste. »Wo ist Stella?«
»Oben mit Lucia bei einer Kostümprobe. Wir fahren bald weg. Die Bauerntour fängt früh an und das Gardner-Kincaid-Team ist leider pleite.« Er zog ein letztes Mal an den Klammern des Trampolins. »Kennst du dich hiermit aus, Tom?«
»Ich weiß nicht. Seit meiner Kindheit bin ich nicht mehr drauf gewesen.«
»Es ist ganz einfach. Angelo hat es aufgestellt, als wir klein waren. Ich glaub’, er wollte irgendwas haben, das Mark mit dem Rest von uns machen konnte.«
»Mark ist dein Zwillingsbruder, nicht? Keiner hat viel von ihm erzählt. Wie ist er denn so?«
»Er ist okay«, fügte Johnny langsam hinzu. »Nicht, dass wir über ihn nicht reden – es ist schlimm, so was zu sagen – aber ich vergesse, dass er überhaupt da ist. Ich seh’ ihn überhaupt nicht mehr. Er hat für die Santellis ein vertracktes Leiden – Höhenangst. Papa Tony könnte einem Tauben beibringen , die Philharmoniker zu dirigie ren, aber bei Mark konnte er überhaupt nichts ausrichten.
Der Junge wollte es schon, aber jedes Mal , wenn er zwei Meter über dem Boden war, wurde er grün, fiel runter, ging weg und übergab sich. Hat Matt dir das nicht erzählt?«
»Er hat mir mal erzählt, dass er bei deinen Verwandten in San Francisco wohnt.«
»Bei den Verwandten meines Vaters, ja. Nachdem mein Vater gestorben war, wollten sie uns alle vier adoptieren. Es gab sogar etwas wie einen Vormundschaftsstreit. Eine Auseinandersetzung darüber, ob Lu eine passende Mutter war, so wie sie durch die ganze Welt reiste.
Zum Glück ist Starr’s der angesehenste Zirkus der Welt.
Und niemand könnte Papa Tony sehen und daran zweifeln, dass er uns alle anständig großziehen könnte. Also durfte uns Lu behalten – der Himmel weiß , warum sie darum kämpfte. Als wir älter waren, gefiel es Mark, in San Francisco zu leben, und nach einer Weile hat Lu ihn dann jede Saison dort gelassen. Er macht seinen Abschlu ss dieses Jahr an der Universität Berkeley, wenn die Armee ihn nicht schnappt.«
»Mario ist dort auch eine Weile hingegangen, nicht?«
»Ja.«
Johnnys Mund schlo ss sich wie eine Falle, und Tommy wu ss te, dass er wieder an irgendein Familiengeheimnis geraten war. Dann zuckte Johnny die Achseln und lehnte sich an den Trampolinrahmen.
»Mark ist kein schlechter Kerl, aber wir haben uns nicht mehr sehr viel zu sagen. Er ist so was wie ein entfernter Cousin oder so, und nicht wie ein Bruder. Die einzige von uns, die er je sieht, ist Liss. Dave Renzo war sein College-Freund, aus einer Verbindung oder so. Wir dachten alle, dass Liss bei der Show bleiben und jeman den vom Zirkus heiraten würde, aber sie hat mal einen Sommer bei den Gardners verbracht, und du weißt ja, wie Lu ist. Die ganze Zeit, während der Show, beobachtete sie Liss wie ein Habicht: keine Minute unbeobachtet, Dutt und Schürze, und keinen Lippenstift und keine Verabredungen. Und wenn irgendein Mann aus der Show drei Worte zu Liss außerhalb der Manege sprach, waren sofort Lucia oder Onkel Angelo hinterher. Und als Liss dann bei den Gardners war, die sie wie jedes andere zwanzigjährige Mädchen behandelten, war so viel Freiheit wohl zu viel für sie. Und bevor du dich versiehst, war
Weitere Kostenlose Bücher