Trau dich endlich!: Roman (German Edition)
Gabrielle benötigte saubere Kleidung, denn sie wollte trotz der Drohung noch eine Weile in ihrer alten Heimatstadt bleiben.
Nimm dich in Acht, Derek Corwin, dachte sie spöttisch. Doch Derek war nicht der einzige Grund für ihre Mission. Sie hatte vor, mit den Einwohnern über den Corwin-Fluch zu sprechen.
Gabrielle legte einen kurzen Zwischenstopp bei Dunkin Donuts in der Main Street ein – das war einer der neuen Läden hier –, dann schlug sie den Weg zu Sharon ein. Als sie vor dem Haus am Ende der Sackgasse ankam, holte ihre Freundin gerade einige Umschläge aus dem Briefkasten, schob die für sie bestimmte Post in ihre Handtasche, steckte den Rest zurück und klappte das Türchen wieder zu.
»Guten Morgen«, begrüßte Sharon sie fröhlich und kletterte zu Gabrielle in den Wagen.
»Morgen. Kaffee?« Gabrielle deutete auf den Becherhalter des Beifahrersitzes.
»Au ja, danke.«
»Mit Milch und Zucker, wie du ihn magst.«
Sharon nahm gleich einen Schluck. »Und schön heiß. Klasse, danke!«
»Gern geschehen«, sagte Gabrielle und fuhr los. Die Fahrt nach Boston dauerte etwa eine Stunde.
»Wie geht es dir?«, wollte Sharon wissen. »Hast du dich inzwischen ein bisschen beruhigt?«
Gabrielle strich sich umständlich die Haare aus den Augen, doch der Fahrtwind machte ihre Arbeit gleich wieder zunichte. »Ja, ja. Dereks Vater war schon immer ein bisschen launisch. Das darf man einfach nicht persönlich nehmen.«
»Dein Gleichmut ist bewundernswert. Ich wäre am Boden zerstört, wenn Richards Familie so mit mir umgehen würde.«
Gabrielle nickte. »Wäre ich vermutlich auch, wenn ich nicht genau wüsste, wie sehr diese Familie unter dem Fluch zu leiden hat.« Genau damit wollte sie sich in nächster Zeit genauer auseinandersetzen, teils für ihr neues Buch, teils aus persönlichen Gründen.
»Hmm.« Sharon klang abwesend.
Gabrielle verfolgte aus dem Augenwinkel, wie ihre Freundin einen großen braunen Umschlag öffnete.
»Was ist das?«, wollte sie wissen.
»Keine Ahnung. Es stand kein Absender drauf.« Sharon zog ein Foto heraus. An einer Ecke war ein Zettel befestigt. »Oh, Gott.«
»Was ist los?«
»Mir wird gleich schlecht.« Sharon lehnte den Kopf ans Fenster und schloss die Augen.
Gabrielle bog besorgt in die nächste Seitenstraße ein und hielt den Wagen an. Zum Glück befanden sie sich noch im Stadtgebiet. »Was ist das?« Gabrielle wollte nach dem Foto greifen, erhielt jedoch einen Klaps auf die Finger. »Nichts«, sagte Sharon mit heiserer Stimme.
»Dann sag mir, was du hast. Worüber regst du dich so auf?«
Sharon hob den Kopf und sah ihr in die Augen. »Kannst du dich noch an Tony DeCarlo erinnern?«
»Dein Exfreund aus Collegezeiten?«, fragte Gabrielle vorsichtig, um nicht zu viele unangenehme Erinnerungen zu wecken.
»Nenn es ruhig beim Namen: der dunkle Fleck in meiner Vergangenheit. Der Kerl, der es schamlos ausgenutzt hat, dass ich bis über beide Ohren in ihn verliebt war.«
Gabrielle hatte nicht vergessen, was damals geschehen war: Tony hatte Sharon ein Schlafmittel in den Drink gekippt und anschließend kompromittierende Fotos von ihr gemacht, um sie zu erpressen. Er hatte tausend Dollar von ihr gefordert und damit gedroht, die Bilder nicht nur dem Institutsvorstand, sondern auch einer Reihe von Zeitschriften zu schicken.
Doch damit war er bei Sharon an der falschen Adresse gelandet.
Obwohl ihr die Angelegenheit schrecklich peinlich war, hatte sie ihren Vater informiert, der von Beruf Rechtsanwalt war. Dieser hatte einen Privatdetektiv engagiert, der dann herausfand, dass Tony DeCarlo ein notorischer Erpresser war, der stets den perfekten Freund mimte und auf ähnliche Weise schon mehrere Mädchen in die Bredouille gebracht hatte. Allerdings war Sharon die Einzige gewesen, die sich zur Wehr gesetzt hatte, und zwar mit Erfolg: Tony war ins Gefängnis gewandert.
»Ich dachte, das hätte ich hinter mir. Ich dachte, die Fotos wären alle von der Polizei konfisziert worden.« Ihre Stimme zitterte genauso heftig wie ihre Hände, als sie nun das grobkörnige Foto zur Hand nahm. »Sie haben wohl doch nicht alle gefunden«, flüsterte sie. »Jemand muss irgendwie eines in die Finger gekriegt haben, und er droht, es an eine Zeitung zu schicken, wenn ich nicht bezahle.«
»Steckt Tony dahinter?«, fragte Gabrielle.
»Die Nachricht ist nicht unterschrieben, aber
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