Trauerweiden
Stadtbummel herumzukommen, wenn er ihnen ein Häppchen Kultur zuwarf. Aber es hatte nicht funktioniert, leider.
Trotzdem waren schließlich alle vom Münster St. Georg beeindruckt. Heiko, der sich mit Architektur ganz gut auskannte, erläuterte, dass es sich um ein überaus variationsreiches Netzgewölbe handle. Fachmännisch referierte er außerdem über den Unterschied zwischen Basilika und Hallenkirche – St. Georg war eine Hallenkirche, hier waren die Seitenschiffe genauso hoch wie das Mittelschiff – und ordnete eine Marienfigur dem Typus »Schöne Madonna« zu.
»Woher weißt du das denn alles?«, wunderte sich Lisa.
Heiko zuckte verlegen die Achseln. »So was interessiert mich halt.«
Eva hatte sich selbstständig gemacht und wanderte auf eigene Faust durch die Kirche. Schließlich blieb sie wie angewurzelt an einer Stelle stehen und winkte die drei anderen aufgeregt heran.
Sie deutete auf einen goldenen Glaskasten und stammelte: »Was ist das denn?« Eigentlich konnte sie sich schon denken, worum es sich handelte, aber glauben konnte sie es nicht so wirklich.
Heiko, der inzwischen mit den beiden anderen herangekommen war, erklärte: »Das ist der Märtyrer Aurelius. Der wurde unter Nero hingerichtet.«
»Und den haben sie so verziert?«, fragte Lisa und musterte die mit goldenen Borten umhüllte und von Edelsteinen geschmückte Mumie.
Heiko stimmte zu.
»Hey, dem fehlt ja ein Bein. Haben das die Löwen in der Arena gefressen?«, wollte Uwe wissen.
»Nicht ganz«, meinte Heiko. »Aurelius wurde enthauptet. Aber im März 2010 haben ein paar Idioten den Glaskasten aufgebrochen, dem Guten ein Bein abgenommen und sind damit getürmt.«
»Im Ernst?«, hakte Lisa nach.
»Ja. Du musst dir das mal vorstellen, da übersteht dieses Ding Jahrhunderte unbeschadet, und dann kommt irgend so ein Depp und kracht ihm sein Bein ab.«
Fassungslos starrten die Besucher auf die verstümmelte Mumie.
»Wahrscheinlich wegen der Edelsteine«, mutmaßte Eva.
»Ja, aber wolltest du erst mal das Bein vom Aurelius da rauspulen, um an die Edelsteine zu kommen?«, gab Heiko zu bedenken.
Eva schüttelte sich. »Eher nicht.«
Später bummelten sie durch die Einkaufsstraße. Die Läden waren in schmucken Altbauten eingerichtet, ihre Namen waren in Gotischer Schrift geschrieben, was die beiden Damen ebenfalls ganz entzückend fanden. Heiko und Uwe stießen tiefe Seufzer aus, als die Mädels endlich dem »Trachtenhäusle« zustrebten. Felsenfest hatten sie mit geschlossenen Läden gerechnet, felsenfest. Verdammt.
Im »Trachtenhäusle« gab es Trachten, logischerweise. Bayerische Trachten, also Dirndl und Lederhosen. Schon durchkämmten Lisa und Eva die Kleiderständer und verursachten dabei dieses klappernde Geräusch, das immer dann entsteht, wenn mehrere Kleiderbügel gegeneinander schlagen und das jetzt schon an Heikos Nerven zerrte.
»Das ist doch süß! Das wäre doch was für dich«, meinte Lisa und hielt ihrer Freundin ein blaues Dirndl hin.
»Sehen wir doch erst mal alles durch und dann probieren wir«, schlug Eva vor.
Die beiden Männer warfen sich verzweifelte Blicke zu, ähnlich denen von gehetztem Wild. Aber es half nichts. Sie mussten wohl in den sauren Apfel beißen.
Die Ladenbesitzerin, eine blonde Mittvierzigerin, kam und meinte: »Sie, mir henn fai aa Männersach, gell?«
Heiko und Uwe hoben abwehrend die Hände. Eine Lederhose mit Karohemd, das wäre ja noch schöner. Da würden sie ja wie Hänsel aussehen. Sie strebten den Umkleidekabinen zu, um das Ganze abzukürzen, und ließen sich auf den beiden Stühlen davor nieder. Von dort aus sahen sie ihren Frauen zu.
»So ein Dirndl ist ja schon heiß«, befand Uwe.
»Ja, aber willst du beim Einkaufen dabei sein? Und Dirndl auf dem Volksfest ist ja die totale Untugend. Wir sind schließlich Hohenloher und keine Bayern.«
Heiko spielte damit auf den Trend der letzten Jahre an, dass die Frauen im Dirndl und die Männer in Lederhosen über das Volksfest flanierten.
Uwe wiegte den Kopf. »Seh ich schon au so. Aber scharf ist es, oder?«
»Weisch du, wie des geht?«, tönte auf einmal aus dem Inneren der linken Umkleidekabine eine Stimme. Eine Männerstimme.
Uwe und Heiko waren schlagartig still.
»Keine Ahnung«, kam es aus der Umkleide daneben.
»So ein Scheiß«, fluchte der Erste. »Ist das kompliziert!«
»Erst das Hemd, gell?«, kam es wieder aus der zweiten.
»Kann man denn net normal auf den Wasen gehen?«
Offenbar probierten die
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