Trauma und die Folgen: Trauma und Traumabehandlung, Teil 1 (German Edition)
Gewalt. Es dauerte viele Monate und es brauchte viele Ermutigungen, bis die betroffenen Frauen sich trauten zu sprechen – ein überall vorfindbares Phänomen (siehe die Publikationen von Medica Mondiale in Köln).
6. Zwischenmenschliche Gewalt ist schlimm, noch schlimmer ist es, wenn der Täter ein nahestehender Mensch ist. Von der Mutter oder Oma geschlagen, von Vater, Onkel, Bruder oder Großvater vergewaltigt oder anderweitig misshandelt zu werden, ist schwerer zu verkraften, als wenn der Täter ein Fremder ist. Am schlimmsten ist es, wenn die eigenen Eltern die Täter sind. Denn sie sind zum einen Geschlechtsvorbild: Ein Mädchen entwickelt am Vorbild der Mutter, ein Junge am Vorbild des Vaters einen erheblichen Teil der eigenen Identität. Zum anderen sind sie natürlich die Personen, die sich am meisten um das Kind kümmern müssten – und in ihrer Aufgabe so furchtbar versagen. Mit entsprechenden Folgen für die Bindungsfähigkeit und das spätere Beziehungsverhalten der heranwachsenden Opfer (siehe Kapitel 4).
7. Wenn das Opfer den Täter mag oder mochte, ist dies schwerer zu verkraften, als wenn man den Täter schon vorher nicht leiden konnte. Ein „fieser Typ“ kann nämlich innerlich konsequent abgelehnt werden, nach dem Motto: „Dieser widerliche Kerl hat mir auch noch was angetan.“ Anders, wenn das Opfer den Täter gern hatte. So kann eine Prostituierte, die von einem unangenehmen Freier attackiert wird, dieses Ereignis unter Umständen besser verkraften (wenn sie gute Bewältigungsstrategien für solchen Stress als Bestandteil ihrer „Berufstätigkeit“ gelernt hat) als eine Frau, die sich in einen Mann verliebt hat und beim ersten gemeinsamen Rendezvous von ihm vergewaltigt wird. Ein Mädchen, das von einem verhassten Stiefvater begrapscht wird, wird sich vielleicht nicht ganz so schwertun, das Ereignis zu verarbeiten, als ein Mädchen, dessen geliebter Vater sich an ihm vergreift. Doch auch hier gilt: weitere Belastungsfaktoren beachten!
8. Die Unfallforschung hat herausgefunden: Wer sich als unschuldiges Opfer des Unfalls fühlte, dessen körperliche und seelische Wunden heilten besser, als wenn man sich schuldig oder mitschuldig am Unfall fühlte. Bei zwischenmenschlicher Gewalt ist es genauso. Offensichtlich fühlen sich die Opfer eher schuldig als die Täter. Es ist, als ob sie die Schuld geradezu „übertragen“ bekämen (s. Hirsch, 1997).
Da auch Täter von den Ereignissen überflutet und traumatisiert werden können, werden diejenigen von ihnen, die zu Gewissensregungen noch fähig sind, eine selbst begangene Gewalttat ebenfalls schlecht verkraften. Wir erleben das regelmäßig bei Menschen, die im Rahmen von Folter oder ritueller Gewalt gezwungen wurden, anderen Mitgefangenen Gewalt anzutun. Aber auch in Gefängnissen oder der forensischen Psychiatrie ist zu beobachten, dass empathiefähige Gefangene mehr unter der Tat leiden als solche, die so verroht sind, dass sie zu Mitgefühl nicht in der Lage sind.
9. Ein Kind oder ein Mensch mit einer psychischen Störung, insbesondere einer tief greifenden Persönlichkeitsstörung, wird ein (erneutes) Trauma schwerer verkraften als ein Erwachsener und ein Mensch mit einer stabilen Persönlichkeit.
Dies ist eine wichtige Erkenntnis der letzten Jahrzehnte. Auch berichten Menschen mit einer Persönlichkeitsstörung häufiger über erlittene Traumatisierungen als solche ohne Persönlichkeitsstörung (Kendler et al., 2000). Im Diagnostikhandbuch ICD-10 werden umgekehrt chronisch verlaufende Formen der PTSD als Posttraumatische Persönlichkeitsveränderungen (F 62.0) bezeichnet.
Oft „häufen“ sich Gewalterfahrungen auf anderen destabilisierenden Faktoren, welche die Persönlichkeit eines Kindes in seiner Entwicklung schwer beeinträchtigen. Hierzu gehören natürlich neben bestimmten Erbfaktoren solche ungünstigen frühen Lebensbedingungen wie Vernachlässigung und Verwahrlosung sowie emotionale, körperliche und sexuelle Gewalt, die in bestimmten Familien häufiger auftreten als in anderen (Paris, 1997). So ist es kein Wunder, dass intergenerationelle Studien eine Häufung von Depressionen und Angststörungen in Familien als besonderen Risikofaktor für das Auftreten einer PTSD zeigen (Davidson, 1998; Hidalgo & Davidson, 2000). Diesen Befund kommentieren Driessen et al. (2002) mit einer weiteren interessanten Beobachtung: „Möglicherweise wird der Zusammenhang zwischen Depression und PTSD über eine peritraumatische Dissoziation
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