Traumfabrik Harvard
Identität«. Sie sind
ebenso stolz und eigensinnig wie anpassungsfähig – und eifrig darauf bedacht, sich von ihren Mitkonkurrenten zu unterscheiden.
Sie sind keine »Anstalten«, sondern stellen etwas dar. Das ist eine direkte Begleiterscheinung ihrer Eigenverantwortlichkeit:
Sie sind nicht daran gehalten und nicht darauf aus, Aufgaben regelkonform zu erledigen, die ihnen Gesetze und Verordnungen
zuweisen, sondern können über ihre Ziele, Eigenart und Arbeitsweise weitgehend selbst bestimmen. Egal, ob sie sich einem neuen
Arbeitsfeld zuwenden, umstrukturieren, wachsen oder schrumpfen wollen – sofern ihr
board
zustimmt, das ein Advokat und Gralshüter der Einrichtung ist, aber keine ihr vorgesetzte Kontrollbehörde, können sie das tun.
Allerdings muss sich jede Hochschule auf dem Markt positionieren und dem Wettbewerb mit anderen stellen. Dabei kann sie im
großen Strom mitschwimmen, eine Marktnische bedienen oder eine für sich selber schaffen. Aber dafür braucht sie ein klares
Verständnis ihrer Ziele und Aufgaben, Prioritäten und Handlungsmöglichkeiten. Das verlangt eine eigene
agency
von jeder Hochschule, die sie vor dem Hintergrund gesellschaftlicher Anforderungen und Leitmotive für die Hochschulausbildung
in ständigem Wettstreit mit anderen erproben und schärfen muss.
Dadurch ist das amerikanische Hochschulsystem ständig im Fluss. Es wird nicht durch Flächentarifverträge, Rahmenvorgaben oder
Kartellabsprachen gesteuert, sondern von der Nachfrage nach einer Collegeausbildung,
professional
und
graduate studies
geformt, von der staatlichen Forschungsförderung und Studienfinanzierung gespeist, aus vielen anderen Finanzquellen genährt,
von hohen gesellschaftlichen Erwartungen getrieben – und nicht zuletzt durch das Verhalten der einzelnen Hochschulen maßgeblich
geprägt. Feste Grenzen und klar abgesteckte Territorien kennt es nicht, sondern verbindet sehr effektiv eine große institutionelle
Differenzierung und Vielfalt mit hoher Inklusionsfähigkeit. In diesem Arrangement spielen der »Eigensinn« jeder Hochschule,
ihr »Stil« und ihre Gründungsmythen |230| eine große Rolle, aber auch die
communities
, die sich ihr zurechnen und denen sie wiederum »dient«. 96 So gehen Traditionspflege (insbesondere in prestigeträchtigen Einrichtungen, aber nicht nur dort) und zupackender, optimistischer
Bewegungsdrang eine schillernde, gelegentlich auch paradoxe Verbindung ein. Weil zentrale Steuerungsmedien und -instanzen
fehlen, herrscht kein Homogenisierungsdruck. Vielfalt ist ausdrücklich erwünscht.
Ob dieses institutionelle Arrangement effizient ist – darüber gehen die Meinungen weit auseinander. Die ausufernden Kosten
für ein Studium haben viele Zweifel daran genährt. Teure Schattenseiten des
anything goes
sind überdeutlich: Intransparenz des Marktes, Reibungsverluste und Wettbewerbsverzerrungen durch problematische Anreize und
Signale, um nur die wichtigsten zu nennen. Selbst die gepriesene Wettbewerbsordnung besitzt ein Janusgesicht: Zwar spornt
die heftige Konkurrenz Hochschulen zur kritischen Überprüfung und Nachbesserung ihrer Leistungen und Portfolios an, nötigt
sie zur Selbst- und Marktbeobachtung und befördert ihre
agency.
Auf der anderen Seite generiert sie aber auch hohe Kosten und zweischneidige Phänomene – man denke nur an das akademische
Wettrüsten im Umfeld der Hochschulzulassung, an die Bieterkriege um Starprofessoren und an die vielen sündhaft teuren Prestigeprojekte,
von denen sich einzelne Hochschulen einen Wettbewerbsvorteil versprechen wie riesige Sportarenen und semi-professionelle Basketball-
oder Lacrosse-Teams, deren Trainer oft mehr als der Hochschulpräsident verdienen. Der ungezügelte Wettbewerb bietet nicht
unbedingt eine Gewähr für hohe Risikobereitschaft und Innovationsfreude. Manche Einrichtungen wollen alles richtig machen
und kopieren schlicht die erfolgreichen Trendsetter.
Best practices
werden dann zur Regel, und der Wettbewerbsdruck produziert Konformität. Doch trotz solcher Ambivalenzen und Schattenseiten
besitzt das amerikanische Hochschulwesen dank seines institutionellen Arrangements eine viel höhere Elastizität, stärkere
Dynamik und ungleich größere Leistungspotenziale als das ordentliche, staatlich durchgeregelte und finanzierte Hochschulsystem
in Deutschland.
2.
Educational philosophy:
Die Einbettung der amerikanischen Hochschulen in eine Kultur, die von
education
und
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