Traumfänger
Gesteinsschichten aus Granit, Felsplatten und Feldern aus kieselgroßen Steinen. An meinen Fußsohlen hatte sich mittlerweile eine ziemlich dicke Hornschicht gebildet, so daß sie fast schon den hufartigen Füßen der Ureinwohner glichen.
Aber selbst diese dicken Schwielen reichten nicht aus, um den Gang über die spitzen Steine angenehm zu machen. Ständig mußte ich an meine Füße denken und an den vollen Schuhschrank zu Hause, in dem sogar Wanderstiefel und Jogging-Schuhe standen. Ich hörte den Schrei des Großen Steinjägers, als er bereits durch die Luft wirbelte. Wir eilten alle zur Kante des Abgrunds und schauten hinunter. Er lag leblos da, und um ihn herum bildete sich bereits eine dunkle Blutlache. Einige der Gruppenmitglieder kletterten flink in die Schlucht hinab, bildeten eine Art Kette und schafften den Verletzten so innerhalb weniger Sekunden nach oben. Selbst wenn er geschwebt hätte, wäre er nicht schneller oben gewesen. Mit den vielen Händen unter seinem Körper wurde er wie auf einem Fließband weiterbefördert.
Als sie ihn oben auf einem glatten Felsstück ablegten, wurde seine Wunde sichtbar. Er hatte sich zwischen Knie und Fußgelenk einen komplizierten Bruch zugezogen. Wie ein häßlicher großer Stoßzahn ragte der kaputte Knochen gute fünf Zentimenter aus der schokoladenmilchbraunen Haut heraus. Sofort zog jemand sein Haarband ab, das dem Verletzten um den Oberschenkel gewickelt wurde. Der Medizinmann und die Heilerin standen rechts und links an seiner Seite.
Andere Stammesmitglieder begannen mit den Vorbereitungen für unser Nachtlager.
Ich schob mich immer weiter nach vorne, bis ich neben dem ausgestreckten Körper stand. »Darf ich zuschauen?« fragte ich. Der Medizinmann bewegte seine Hände etwa zwei Zentimeter über der Hautoberfläche des verletzten Beins langsam auf und ab: Erst glitten beide Hände in die gleiche Richtung, dann bewegte sich die eine von oben nach unten und die andere von unten nach oben. Die Heilerin lächelte mir zu und sagte etwas zu Ooota. Er übersetzte es mir.
»Das ist etwas für dich«, sagte er. »Man hat uns erzählt, daß dein Talent darin liegt, für dein Volk als Heilerin tätig zu sein.«
»Ja, ich denke, man kann es so nennen«, antwortete ich. Die Vorstellung, daß Heilung etwas war, das von den Ärzten oder aus ihrer Trickkiste kam, war mir immer unangenehm gewesen. Vor vielen Jahren, als ich selbst schwer an Polio erkrankt war, hatte ich erkannt, daß Heilung nur aus einer Quelle gespeist wird. Der Arzt kann den Körper unterstützen, indem er Fremdkörper entfernt, bestimmte Chemikalien injiziert und Knochen wieder einrenkt oder an ihren Platz rückt - aber das alles bedeutet noch nicht, daß der Körper heilt. Ich bin sogar davon überzeugt, daß nirgendwo auf der ganzen Welt, zu keiner Zeit und in keinem Land ein Arzt jemals etwas geheilt hat. Jeder Mensch trägt den Heiler in sich. Im besten Fall ist ein Arzt jemand, der bei sich ein besonderes Talent entdeckt und ausgebildet hat. Und es ist ein besonderes Privileg, wenn er mit diesem Talent, mit dem, was er am besten kann und am liebsten tut, der Gemeinschaft dienen darf. Jetzt war jedoch nicht der Moment für eine weitläufige Diskussion. Ich mußte die Formulierung, die Ooota gewählt hatte, akzeptieren und den Ureinwohnern bestätigen, daß ich in meiner Gesellschaft ebenfalls eine Heilerin war.
Sie erklärten mir, daß die Handbewegungen über dem beschädigten Körperteil dazu dienten, die ursprüngliche Form des gesunden Beins wiederherzustellen, ohne es zu berühren. Auf diese Weise würde ein Anschwellen des Beins verhindert. Der Medizinmann half dem Gedächtnis des Knochens nach, damit er sich an seine wahre, gesunde Gestalt erinnern konnte. So konnte auch der Schock beseitigt werden, den der Knochen im Moment des Zerbrechens erfahren hatte, als er seine in dreißig Jahren entwickelte Position plötzlich verlassen mußte. Sie »sprachen« buchstäblich mit dem Knochen.
Als nächstes begannen die drei Hauptakteure dieses Dramas - der Medizinmann, der zu Füßen des Verletzten stand, die Heilerin, die an seiner Seite kniete, und der auf dem Rücken ruhende Verletzte selbst - eine Art Gebet zu sprechen. Der Medizinmann legte beide Hände um das Fußgelenk des verletzten Beines, wobei er den Fuß jedoch weder zu berühren noch an ihm zu ziehen schien. Die Heilerin tat dasselbe am Knie des Verletzten. Ihr Gebet war eine Mischung aus Deklamationen und Gesängen, wobei kein Ton dem
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