Traumfänger
anderen glich. Völlig unvermittelt erhoben plötzlich alle drei ihre Stimmen zu einem gemeinsamen Schrei. In diesem Moment müssen sie kräftig gezogen haben, aber ich hatte nichts dergleichen gesehen. Der Knochen glitt einfach an die Stelle zurück, aus der er ausgebrochen war. Der Medizinmann hielt die verletzte Haut zusammen und nickte der Heilerin zu, die jetzt das seltsame lange Rohr, das sie immer bei sich trug, öffnete.
Schon vor Wochen hatte ich die Heilerin gefragt, wie die Frauen mit ihren monatlichen Blutungen umgingen, und sie hatte mir eine Art Binde aus Schilfgras, Stroh und feinen Vogelfedern gezeigt. Danach beobachtete ich, wie einzelne Frauen sich manchmal von der Gruppe entfernten, um sich ihren weiblichen Problemen zu widmen. Ahnlich wie ihren Stuhl vergruben sie auch die schmutzigen Binden in Katzenmanier. Manchmal sah ich jedoch eine Frau aus der Wüste zurückkommen, die etwas in ihren Händen verbarg, das sie der Heilerin brachte. Diese öffnete dann das obere Ende ihres langen Rohrs. Ich sah, daß es mit denselben Pflanzenblättern ausgeschlagen war, mit denen sie auch meine wunden Füße und täglichen Sonnenbrände behandelt hatte. Die wenigen Male, die ich näher dabeigestanden hatte, war dem Rohr ein bestialischer Gestank entwichen. Irgendwann entdeckte ich dann, worum es sich bei den geheimnisvollen, im Rohr verschlossenen Objekten handelte - um dicke Blutklumpen.
An diesem Tag öffnete die Heilerin das Rohr jedoch nicht am oberen Ende, sondern unten. Diesmal roch ich überhaupt nichts. Aus dem Rohr drückte sie etwas in ihre Hand, das wie schwarzer Teer aussah. Die Substanz war sehr zähflüssig und glänzte. Sie verklebte damit die Hautfetzen der Wunde. Großzügig verschmierte sie die Paste auf dem verletzten Bein und betonierte die Wunde regelrecht zu. Es gab keine Schiene, keinen Verband, keinen Gips, keine Krücken und auch keine Naht.
Bald hatten wir alle den Schrecken vergessen und machten uns hungrig über unser Essen her. An diesem Abend wechselten sich die Leute dabei ab, den Kopf des Großen Steinjägers in ihrem Schoß zu halten, damit er von seinem Ruheplatz aus besser sehen konnte. Auch ich kam an die Reihe. Ich wollte seine Stirn fühlen, um zu sehen, ob er Fieber hatte. Außerdem wollte ich der Person nahe sein, die sich bereit erklärt hatte, meinetwegen Gegenstand dieser Demonstration ihrer Heilkünste zu sein. Als sein Kopf in meinem Schoß lag, blickte er zu mir auf und zwinkerte mir zu.
Am nächsten Morgen stand der Große Steinjäger auf und wanderte mit uns weiter. Es war keine Spur eines Hinkens festzustellen. Sie hatten mir gesagt, daß ihr Ritual die Schmerzen in dem Knochen lindern und eine Schwellung vermeiden würde. Es hatte gewirkt.
Mehrere Tage lang beobachtete ich sein Bein genau und sah, wie die dicke schwarze Masse langsam trocknete und abfiel. Nach fünf Tagen war sie ganz verschwunden; nur an der Stelle, wo der Knochen herausgetreten war, waren ein paar dünne Narben zurückgeblieben. Der Steinjäger wog gute einhundertfünfzig Pfund, und es war mir ein Rätsel, wie er sich ohne Stütze auf den völlig durchgetrennten Knochen hatte stellen können, ohne daß dieser wieder aus seiner Bruchstelle hervorschnellte. Ich wußte schon, daß die Menschen in diesem Stamm generell sehr gesund waren, aber noch dazu schienen sie über besondere Talente bei der Bewältigung von Krisensituationen zu verfügen.
Die Menschen, die über diese Heilkünste verfügten, hatten niemals Biochemie oder Pathologie studiert, aber ihre Diplome hatten sie in anderen Fächern erworben: Ehrlichkeit, aufrichtige Absichten und echtes Engagement für die Gesundheit.
»Weißt du, wie lange die Ewigkeit dauert?« fragte mich jetzt die Heilerin.
»Ja«, antwortete ich, »ich weiß es.«
»Bist du dir sicher?«
»Ja, ich weiß es«, wiederholte ich.
»Dann können wir dir noch etwas erzählen. Alle Menschen sind Geister, die auf dieser Welt nur zu Besuch sind. Und alle Geister sind ewige Wesen. Alle Begegnungen mit anderen Menschen sind Erfahrungen, und alle Erfahrungen sind ewige Verbindungen.
Die >Wahren Menschen< schließen den Kreis einer jeden Erfahrung. Anders als die >Veränderten< bringen wir alles zu einem Abschluß. Wenn du einen Menschen verläßt und in deinem Herzen noch Groll gegen ihn hegst, ist dieser Kreis nicht geschlossen, und die Erfahrung wird sich später in deinem Leben wiederholen. Du wirst nicht nur einmal leiden, sondern immer wieder, bis du etwas
Weitere Kostenlose Bücher