Traumfänger
ungeheuer gute Augen. Das Pigment Rutin, das es in mehreren ihrer Pflanzen gibt, wird in der Augenheilkunde zur Behandlung von schwachen Kapillar- und Blutgefäßen im Auge eingesetzt. Während der vielen tausend Jahre, in denen Australien ihnen ganz allein gehörte, haben sie gelernt, wie die verschiedenen Nahrungsmittel auf den Körper wirken.
Bei einer Ernährung, die hauptsächlich aus Wildpflanzen besteht, gibt es jedoch ein großes Problem - die vielen giftigen Substanzen. Die Stammesmitglieder erkennen sofort, was nicht angerührt werden darf, und sie haben gelernt, wie man giftige Pflanzenteile entfernt. Allerdings haben sie mir gestanden, daß zu ihrem Bedauern einige aggressive Aborigines-Stämme die Pflanzengifte gegen ihre Feinde einsetzten.
Nachdem ich lange genug mit dem Stamm gewandert war, akzeptierten sie allmählich, daß ich immer fragen mußte, um mir auch über mich selbst Klarheit verschaffen zu können. Ich schnitt das Thema Kanni-balismus an. Ich hatte die Darstellungen in den Geschichtsbüchern gelesen und Witze meiner australischen Freunde gehört, in denen es um Aborigines ging, die Menschen, ja sogar ihre eigenen Babys aßen.
Stimmte das?
Ja. Schon immer haben die Menschen alles ausprobiert. Auch auf diesem Kontinent schaffte man es nicht, die Menschen davon abzuhalten. Es hatte Aborigine-Stämme mit Königen gegeben und Aborigine-Stämme mit weiblichen Herrscherinnen. Einige hatten Menschen aus anderen Stämmen entführt, andere hatten Menschenfleisch gegessen. Wir »Veränderten Menschen« töten und gehen fort. Den Leichnam lassen wir einfach liegen. Die Kannibalen töteten und benutzten die toten Körper, um die Lebenden zu nähren.
Die Beweggründe einer Gruppe sind nicht besser und nicht schlechter als die einer anderen. Mord ist immer Mord, egal, ob er nun zur Verteidigung, aus Rache, niederen Beweggründen oder zur Nahrungsbeschaffung geschieht. Was die »Wahren Menschen« von den »Veränderten Menschen« unterscheidet, ist, daß sie einander nicht umbringen.
»Es gibt keine Rechtfertigung für den Krieg«, sagten sie, »er ist immer unmoralisch. Kannibalen haben aber nie mehr Menschen getötet, als sie an einem Tag essen konnten. In euren Kriegen werden in wenigen Minuten Tausende von Menschen umgebracht. Vielleicht solltet ihr euren Anführern einfach vorschlagen, daß beide Parteien nicht länger als fünf Minuten gegeneinander kämpfen dürfen. Dann sollen die Eltern auf die Schlachtfelder gerufen werden, um die Überreste ihrer Kinder einzusammeln. Sie sollen sie mit nach Hause nehmen, sie beweinen und begraben. Wenn das alles geschehen ist, kann man sich nötigenfalls auf fünf weitere Kampfminuten einigen. Es ist schwer, in der Sinnlosigkeit einen Sinn zu erkennen.«
Als ich an diesem Abend auf der dünnen Matte lag, die meinen Mund und meine Augen von dem Staub und Dreck des Bodens trennte, dachte ich daran, wie weit die Menschheit es in manchen Dingen gebracht hatte und wie weit sie sich aber gleichzeitig auch von vielen anderen wichtigen Dingen entfernt hatte.
12 • Lebendig begraben
Die Verständigung mit den Stammesleuten war nicht leicht. Die Wörter ihrer Sprache ließen sich nur schwer aussprechen und waren meist sehr lang. Sie redeten zum Beispiel von zwei anderen Aborigine-Stämmen, die sie Pitjantjatjara und Yankuntjatjara nannten. Vieles klang für mich völlig gleich, bis ich gelernt hatte, sehr sorgfältig zuzuhören. Mir ist aufgefallen, daß sich die Journalisten über die Schreibung von Aborigine-Wörtern nicht einig sind. Einige benutzen die Buchstaben B, DJ, D und G, wo andere für die gleichen Wörter P, TJ, T und K verwenden. Aber weil die Aborigines selbst kein Alphabet haben, gibt es auch keine richtige oder falsche Schreibweise. Man kann sich also, wenn man will, ewig darüber streiten. Mein Hauptproblem war, daß die Menschen, mit denen ich auf Wanderschaft war, Nasallaute benutzten, die mir extrem schwerfielen. Um ein »ny« zu artikulieren, lernte ich, die Zunge fest gegen meine hinteren Zähne zu pressen. Wer dies versucht und dabei das Wort
»Indianer« sagt, wird verstehen, was ich meine. Bei einem anderen Laut hebt man die Zunge und schnellt sie dann vor. Ihre Lieder klingen oft anfangs ganz sanft und melodisch, werden dann aber durch ein abruptes, kraftvolles Geräusch unterbrochen.
Bei diesem Stamm gab es nicht ein, sondern mehr als zwanzig verschiedene Wörter für »Sand«, mit denen sie dessen Konsistenz und die
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