Traumfänger
Ich kam nicht an den vielen Beinchen vorbei, die auf meiner Zunge herumkrabbelten. Schließlich hatte sich die Ameise in meinen Gaumen geflüchtet. Daraufhin spuckte ich sie wieder aus. Abends, als wir am Feuer saßen, wickelten sie ein paar Ameisen in ein Blatt und legten es in die Glut. Als es fertig war, konnte ich die süße Flüssigkeit von dem Blatt ablecken wie geschmolzene Schokolade vom Einwickelpapier. Für einen Menschen, der noch nie Orangenblütenhonig gegessen hat, mußte dies eine echte Delikatesse sein. Allerdings glaube ich nicht, daß sie sich in der Stadt gut verkaufen würde!
Später am Abend zerriß die Spielleiterin ihr Blatt in Stücke. Obwohl sie die einzelnen Teile nicht auf unsere Art zählte, ging ihre Rechnung so gut auf, daß jeder von uns ein Stück erhielt. Während sie ihr Blatt auseinanderriß, sangen wir und machten Musik. Dann konnte das Spiel beginnen.
Wir sangen noch weiter, als das erste Blattstück auf den Boden gelegt wurde. Weitere folgten, bis die Musik plötzlich verstummte. Jetzt sahen wir alle zu, wie in einer Art Puzzle das Blatt neu zusammengesetzt wurde. Immer mehr Stücke wurden auf den Boden gelegt, und ich erkannte, daß es erlaubt war, ein anderes Teil wegzuschieben, wenn man der Meinung war, das eigene passe besser an diese Stelle. Es gab bei diesem Spiel keine besondere Reihenfolge, denn es ging auch nicht ums Gewinnen, sondern um das Gemeinschaftswerk. Bald war die obere Hälfte des Blattes fertig, und es hatte wieder seine ursprüngliche Gestalt angenommen. Zu diesem Etappenziel gratulierte jeder jedem; wir schüttelten uns die Hände, umarmten uns und wirbelten einander herum. Das Spiel war halb vorbei, und jeder hatte dazu beigetragen. Dann konzentrierten sich alle wieder, und der zweite Teil des Spiels begann. Ich ging zu dem Blatt hin und legte mein Stück ab. Als ich mir unser Werk später noch einmal anschauen wollte, konnte ich nicht mehr erkennen, welches mein Teil gewesen war, also setzte ich mich wieder hin. Ooota hatte meine Gedanken gelesen, und ohne daß ich ihn etwas gefragt hätte, sagte er: »Das macht nichts. Es sieht nur so aus, als ob das Blatt aus Einzelteilen bestünde, so wie die Menschheit aus einzelnen Individuen zu bestehen scheint. In Wirklichkeit sind wir alle eins. Darum wird es auch das Schöpfungsspiel genannt.«
Mehrere Stammesmitglieder steuerten Erklärungen bei, die Ooota für mich übersetzte. »Daß wir eins sind, bedeutet nicht, daß wir alle gleich sind. Jedes Wesen ist einzigartig. Es gibt nie zwei, die denselben Raum einnehmen. So wie das Blatt jedes einzelne Teil zu seiner Vervollkommnung braucht, hat auch jede Seele ihren besonderen Platz. Auch wenn die Menschen versuchen, dies zu beeinflussen, wird am Ende alles und jeder zu seinem angestammten Platz zurückkehren. Einige versuchen dabei einen geraden Weg zu gehen, während andere lieber zermürbende Kreise wählen.«
Plötzlich bemerkte ich, daß mich alle anblickten, und mir kam der Gedanke, aufzustehen und zu dem Blatt zu gehen. Als ich davorstand, sah ich, daß nur noch ein einziges Teilchen fehlte, und das entsprechende Stück lag ein paar Zentimeter weiter entfernt.
Als ich es in das Puzzle einfügte, stieg ein vielstimmiger Freudenschrei in die klare Nacht auf. Er zog hinaus in die unendlich weite, offene Ebene, die unsere kleine Menschengruppe umgab. In der Ferne erhob ein Rudel Dingos seine spitzen Schnauzen. Sie heulten in den schwarzen Himmel hinein, an dem die himmlischen Diamanten funkelten.
»Mit dem Einfügen dieses letzten Stückes hast du dich dieser Wanderung würdig erwiesen. Wir sind alle eins und gehen einen geraden Weg. Bei den > Veränderten Menschen< gibt es viele Glaubensrichtungen. Sie sagen: Dein Weg ist anders als mein Weg, dein Erlöser ist nicht mein Erlöser, und deine Ewigkeit ist nicht meine Ewigkeit. Aber in Wahrheit ist alles Leben nur eins. Es wird nur ein Spiel gespielt. Es gibt nur eine Rasse, aber viele Schattierungen. Die >Veränderten< streiten über den Namen Gottes und in welchem Gebäude er wann und mit welchem Ritual geehrt wird. >Ist Er auf die Erde gekommen?< fragen sie. >Was will Er uns mit seinen Gleichnissen sagen?< Was wahr ist, ist wahr. Wer einen anderen verletzt, verletzt sich selbst. Wer einem anderen hilft, hilft sich selbst. Alle Menschen sind aus Fleisch und Blut. Es unterscheiden sich nur die Herzen und das individuelle Begehren. Die Veränderten Menschen< denken nur an die nächsten hundert Jahre, das
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